Gynaikokratie Feminismus vor Tausenden von JahrenDichter Innenteil

Cherchez la Femme (09/21)

Unlängst fuhr ich nach Zadar in Kroatien, zum ersten Mal seit meiner Kindheit. Gegenüber auf der Insel Pašman hatten ich und Freund*innen Gelegenheit, ein altes Steinhaus zu bewohnen – für fast nichts. Zwar hatten wir keine Klimaanlage, in den Schlafzimmern oben im Haus hatte es in der Nacht 34 Grad, unser Geschirr wuschen wir in drei Schüsseln nebeneinander, in drei unterschiedlichen Verschmutzungskategorien platziert, mit Zisternenwasser, um Wasser zu sparen, und hatten dementsprechend viel Arbeit damit, aber die Stille oben am Hügel, die armdicken Kreuzottern, denen ich als Schlangenfreundin begegnete, und der Uhu uns gegenüber am Strommast, das ist selten zu finden. Das machte alles wett. Zadar war mir aus der Ferne bekannt aus letztem Jahr, als Corona-Hotspot. Ich weiß nun, wieso, die Stadt ist faszinierend, ein vor allem junges Publikum dort, der Park und der Sound der Partys tranceartig bewegend, die Atmosphäre geladen und die Drinks – na ja, was soll ich sagen, ich habe sie diesmal ausführlich genossen, mir erlaubt, wieder zu genießen, etwas das mit dem Alter und dem Fingerzeig der Ärzte oder in den Medien wie aus der Welt gerissen erscheint. Mir zum Trotz und allen anderen, habe ich mich mit blondierten Punk-Haaren in den neuerlichen Corona-Sommer-FFP2-Desinfektions-Impf-Modus begeben, der mir mittlerweile selbstverständlich ist. Und hoffentlich vielen anderen ebenfalls. Dementsprechend ausgerüstet betrat ich am Forum Romanum das Museum für Archäologie, ein architektonisch gelungener Neubau, er ist im ehemaligen erzbischöflichen Palast untergebracht. Die Sammlung umfasst lokale und regionale Funde von der Jungsteinzeit bis ins Mittelalter. Bereits im 5. Jahrhundert v. Chr. haben in der Region um Zadar die Illyrer Siedlungen errichtet.  Als die Römer im 2. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung begannen, ihr Herrschaftsgebiet im adriatischen Raum auszudehnen, eroberten sie auch eine dieser Siedlungen und nannten den Ort Iader. So wurde Zadar immer wieder Teil verschiedener Herrschaftsgebiete: Frankenreich, Byzanz, Venedig, Ungarn, Österreich.

 

Politische Souveränität der Frauen

 

Ich streife durch das Museum, durchaus systematisch diesmal, da ich weiß, dass meine Aufmerksamkeitsspanne in Museen nicht überbeansprucht werden darf. So bleibe ich im zweiten Stock stehen, nehme mir die Zeit, die ich benötige, und staune, dass die Liburner, ein Illyrischer Volksstamm, in der Eisenzeit auch noch im 6. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung matriarchale Riten lebten, wie zum Beispiel in ihrem Glaubenssystem, die Sonne als Göttin der Fruchtbarkeit. Frau-Sein war immer gebunden an Leib, Sexualität, Geburt. Der Begriff Gynaikokratie wurde eher pejorativ verwendet, insbesondere von Aristoteles, um einen Kontrollverlust über die Frauen und Sklaven sprachlich darzustellen. Matriarchat bedeute nicht die Umkehrung des Patriarchats, wie viele annehmen, sondern beruht auf dem Prinzip der Konsensgemeinschaften. Die Entscheidungsfindung liegt bei allen Sippenmitgliedern. Sie wird von der Sippenmutter als Oberhaupt zusammengefasst und zum Abschluss gebracht und danach vom Mutterbruder im Rat des Dorfes oder der Stadt vertreten. In allen Matriarchaten besitzt der Mann die repräsentative Funktion nach außen, bleibt aber seiner Mutter oder Schwester untergeordnet. Auch in der minoischen Kultur auf Kreta, die am längsten währte, war König Minos zwar Vertreter nach außen, jedoch nicht autokratisch, sondern Repräsentant der in der Gemeinschaft gefällten Entscheidungen. Sogar heute existieren Stämme in Asien, die matrilinear leben. Typisch ist die sogenannte Besuchsehe. Die Männer leben weiterhin im Mutterhaus und besuchen ihre Ehefrauen lediglich nachts, in deren Sippenhaus. Sie haben dort kein Wohnrecht. Die Ehe, die Sexualität bindet also nicht und formt automatisch keine gemeinsame Ökonomie, daher gibt es keine wechselseitige finanzielle Abhängigkeit. Ich schreite von Vitrine zu Vitrine, versuche mir das Leben der Frauen am Forum Romanum plastisch darzustellen; wie sie wohl gesprochen haben, in welchem Duktus, mit welchen Gesten, wie und was wurde verhandelt, wie bahnte sich sexueller Kontakt an, wie wurde verhütet und entbunden? Die prächtigen Schmuckstücke der Liburnerinnen sind fantastisch erhalten und gearbeitet, mit Motiven von Vögeln, der Sonnenscheibe und dem Himmelsgewölbe deuten sie auf die Abhängigkeit von Universum und Natur. Als ich recherchiere, stoße ich auf interessantes Material, das auch meinen Horizont dramatisch erweitert, im Sinn einer Geschichts-Bewusstseinsbildung, im Sinne von Brüchigkeit von Geschichte, im Sinne von einem sich bewegenden Prozess der Veränderung verschiedener Sichtweisen. Beate Wagner-Hasel nämlich schreibt von einer Abkehr von einem Denken in dichotomischen Mustern. Sie betont das Nebeneinander von Matri- und Patrilinearität. Wurde lange Zeit der Mutterbruder als entscheidende Autoritätsperson angesehen, so zeichnet sich in der jüngeren ethnosoziologischen Forschung eine differenzierte Sicht ab. Es wird von einer Vielfalt von Autoritäts- und Machtfunktionen ausgegangen, die weder in patrilinearen noch in matrilinearen Gesellschaften auf nur ein Geschlecht beschränkt sind. Die kollektive Organisation von Textilarbeit kann auch zur Erklärung für Machtpositionen durch einige antike Befunde herangezogen werden. Sie ist nicht nur für das minoische Kreta nachgewiesen, wo seit den Ausgrabungen von Arthur Evans um 1900 in Knossos ein historisches Matriarchat verortet wurde, sondern auch für das archaische und klassische Griechenland.

 

Ica, Iria, Iutossica, Sentona, Latra und Anzotic

 

In die Liburnischen Kultur verehrte man Frauen und Frauengottheiten wie Ica, Iria, Iutossica, Sentona, Heia, Minerva Flanatica, Latra und Anzotica. Der Körper ist als Dreieck geformt und der Kopf als Halbmond. Anstelle von Armen werden Vögel dargestellt und in der Mitte des Körpers ist ein Fruchtbarkeitssymbol, das Brüste darstellen sollte. Der Sonnenkult der Illyrer war religiöse Manifestation. Swastika, Meander, konzentrische Kreise, Spiralen, Vögel waren die Symbole, die den Kult ausdrückten. Die Swastika symbolisiert die Sonne in Bewegung und die Vögel ziehen das Sonnenboot über den Himmel. Ein schönes Bild, finde ich. Wenn auch die Swastika zu einem völlig anderen Symbol von Zerstörung wurde. Der Schrein der Venus Anzotica wurde übrigens 1938 entdeckt, im Hafen von Nin nahe Zadar. Die erste mythische Geschichte aus der liburnischen Region – Das Goldene Vlies – erzählt uns von der Suche nach Weisheit. Wir finden es auch in dem antiken Theaterstück Medea. Eine tragische Geschichte einer Frau, die grässlich betrogen und behandelt wird und sich und ihre Kinder aus Liebe opfert. Sie bringt sie um. Sie will keinesfalls Jason ein Bluts-Vermächtnis hinterlassen. Sie will alle Spuren des Missbrauchs löschen. Die Nennung des Namens Medea evoziert offenbar das blanke Grauen. Warum das so ist, habe ich nie verstanden. Ich lese einen interessanten Artikel dazu von Christina Baniotopulou in der Zeit: Das Verb medein deutet darauf hin, dass Medea so viel bedeutet wie: Ratgeberin, Beschützerin oder Herrscherin. Insofern liegt der schlechte Ruf des Namens einzig und allein in Euripides’ Tragödie begründet. Medea ist eine Revolutionärin, die um ihre Ideologie betrogen wurde. Sie glaubte an die bedingungslose Liebe, wie sie einst von Jason verkörpert wurde. Für diese Liebe opferte sie ihre Herkunft, ihren königlichen Status, ihren Bruder. Und als Revolutionärin, deren Glaube sich als eine Illusion entpuppt, opfert sie am Ende das Wertvollste, was sie hat: ihre Kinder. Ihr Akt ist das erste rein feministische Verbrechen aller Zeiten. Ohne Medea hätte es wahrscheinlich keine erste, zweite und dritte Welle des Feminismus gegeben, keinen Diskurs über Schwangerschaftsabbrüche (noch immer ist das Abtreibungsrecht umstritten, wie man in Irland oder Spanien gerade sieht). Nun, eine radikale feministische Haltung nenne ich das! Man sieht, dass das weibliche Geschlecht in modernen Medea-Adaptionen als Etikett der Andersartigkeit und Anlass der Unterdrückung ist, und auch eine gewaltige Portion Identität und Exotik gehören dazu. Medea als Jüdin, Schwarze oder Muslima, da spielt diese Fremdheit Medeas eine wichtige Rolle. Die Rolle als Sündenbock, als Widerständische, als Aufmüpfige, als Hysterische, als Unerwünschte, als Verbrecherin spiegelt ein grausames Patriarchat, während sie auf der kollektiven Ebene das tragische Ende des Zusammenpralls zweier Kulturen bzw. zweier Zeitalter bedeutet. Medea als Bespiel aus der Geschichte gerissen befindet sich genau am Übergang einer niedergehenden matrilinearen Gesellschaft in die emporkommende patriarchale Gesellschaft. Insofern können wir alle den Namen Medea getrost als zweiten Namen tragen.

 

 

Beate Wagner-Hasel: Matriarchat: Metamorphosen einer Idee, Universität Hannover (pdf online)