Häuser per Losverfahrenvorstadt

Zwischen den Weltkriegen entstand in einem Mikrokosmos im Nordosten von Wien eine der ersten Erwerbslosensiedlungen. Eine Spurensuche in der Leopoldau.

TEXT: BARBARA EDER
FOTOS: CAROLINA FRANK

Jenseits der Donau ist vieles anders. Der Fluss, der die Stadt in zwei Hälften teilt, ist auch eine politische Demarkationslinie. In Transdanubien wird man vergeblich nach den in Stein gemeißelten Ikonen des Feudalismus suchen, die das Interieur der Wiener Innenstadt ausschmücken; finden wird man stattdessen Dokumente von Unbequemen und Abweichlern: Der Donaupark beherbergt etwa die Büsten von Che Guevara und Salvador Allende, auch die Denkmäler der südamerikanischen Unabhängigkeitskämpfer José Gervasio Artigas und Simón Bolívar stehen dort. Nationaler grundiert ist indes die Namensgebung der Brücken und Stege, die von Transdanubien aus verbinden. Über den Georg-Danzer-Steg gelangen Fußgänger_innen und Radfahrer_innen von Floridsdorf in die Brigittenau, eine Brücke, die nach dem Wiener Friedens- und Umweltaktivisten Waluliso benannt ist, quert die Neue Donau auf Anhöhe der Lobau. Die Waluliso-Brücke ist leicht und selbsttragend, sie liegt dem Wasser nur auf. Wa-Lu-Li-So – Abkürzungen für Wasser, Luft, Licht und Sonne – ist alles, was es hier zum Leben braucht, die Begrenzung aufs Elementare existenziell. Die Waluliso-Brücke feierte am 8. Juni ihr 23-jähriges Bestehen, ihren Ausgang nimmt sie vom Nacktbadestrand der ehemaligen Favelas von Wien.

Selbstversorgung.

Unweit des Ufers der Alten Donau beginnt der Radweg zu einem noch jungen Teil von Transdanubien. Erst seit 1904 gehört die ehemalige Marktgemeinde Leopoldau zu Wien, das dazumal kaum erschlossene, dörfliche Gebiet ist heute auch mit öffentlichen Verkehrsmitteln gut erreichbar. Zwischen Dopsch- und Schererstraße liegt die U1-Station Großfeldsiedlung, zwischen den Gemeindebauten finden sich die Rudimente von unterschiedlichen Kleingartensiedlungen. Trotz zahlreicher Umbauten und Erweiterungen sind die Grundrisse der Häuser bis heute ähnlich: Die größtenteils unterkellerten Gebäude mit einer Wohnfläche von weniger als dreißig Quadratmetern sind in Küche und Schlafraum unterteilt und wurden von 1934 bis 37 mithilfe eines Kredits des Wohn- und Siedlungsfonds errichtet. Während des Nationalsozialismus wurde das Areal um Doppelhäuser für SA-Angehörige und Kriegsversehrte erweitert, als Regenerationsstätten für Frontverletzte waren die pro Kopf mit rund 1200 Quadratmeter bemessenen Siedlungsstätten ursprünglich aber nicht gedacht; Erwerbslose und Ausgesteuerte sollten auf dieser Fläche ihre Häuser bauen und sich mit den Erträgen aus Obstbau und Kleintierzucht versorgen. Als Siedler_innen, die sich gegen Ende des Ersten Weltkriegs zu einer Bewegung formierten, hatten sie diesen Anspruch selbst formuliert. Neben eigentümerlosen Kleingärten, Holzhütten, Schuppen und Gartenhäusern besetzten sie dazumal auch Teile der Lobau und des Lainzer Tiergartens.
«Hier haben wir unsere letzte Hoffnung auf Arbeit begraben», lautet die Inschrift auf dem Grabstein, den die kluge Proletariertochter der Familie Bönicke am Eingang der Berliner Erwerbslosensiedlung Kuhle Wampe platziert hat. Der unter Mitwirkung von Bertolt Brecht gedrehte und von Hanns Eisler vertonte Spielfilm von Slatan Dudow erzählt davon, wie sich eine verpfändete Proletarier_innenfamilie in den Dreißigerjahren des letzten Jahrhunderts von der Arbeitssuche emanzipiert. Nach einem weiteren vergeblichen Versuch, Arbeit zu bekommen, stürzt sich der Sohn unter Drohgebärden des ebenfalls erwerbslosen Vaters aus dem vierten Stock der Wohnung. Die Tochter will kein weiteres Familienmitglied verlieren und erkennt, dass es in Zeiten der Massenarbeitslosigkeit keine Arbeit geben kann. Auch die «wilden» Siedler_innen von Wien reagierten auf die objektive Lage – mit der Forderung nach staatlichem Grund und im Bewusstsein, die prekäre Existenz selbst in die Hand zu nehmen.

Losverfahren.

1932 begann die Arbeit am Aufbau der Erwerbslosensiedlung Leopoldau, dem Nachbarprojekt Nordbahnsiedlung ging sie zwei Jahre voraus; für die achtzig Siedlerstätten der ersten Bauphase steuerte die GESIBA – eine Abkürzung für die Gemeinwirtschaftliche Siedlungs- und Baustoffanstalt im Roten Wien – die nötigen Baumaterialien bei. Bauleiter Richard Bauer entwarf den Prototypen für das mustergültige Siedler_innenhauses, es bestand aus großformatigen Leichtbetonbausteinen und Innenwänden aus Gips; erst im Nachhinein wurde entschieden, wem das jeweilige Haus gehören sollte. Gebaut wurde für die Allgemeinheit, erst nach Fertigstellung verteilte man die Häuser per Losverfahren unter den beteiligten Siedler_innen.
Auf eine Belebung durch das einzigartige Binnenkolonisierungprojekt im Herzen der kapitalistischen Wirtschafskrise hatte die Baubranche vergeblich gehofft – die Siedler_innen haben ihr künftiges Zuhause selbst errichtet. Von ihnen wurde erwartet, insgesamt 2000 Arbeitsstunden zu erbringen, geleistet wurden sie auf der Baustelle, in der Baustoffanstalt und der Tischlerwerkstätte. Bei Dienstantritt bekam man das Arbeitslosengeld ausbezahlt, alle, die aus besonders großer Entfernung anreisten, erhielten von der GESIBA den Betrag für Fahrscheine und Übernachtungsmöglichkeiten erstattet. Dennoch konnten nicht alle Erwerbslosen am Aufbau der transdanubischen Siedlung mitwirken, selbst in der zweiten Bauphase waren die Plätze auf 345 limitiert. Langzeitarbeitslosigkeit – bis heute ist sie durch mindestens ein erwerbsloses Jahr definiert – war eine gute Voraussetzung für die Teilhabe, sie wurde jedoch nicht besser bewertet als das gänzliche Fehlen von staatlichen Unterstützungen. Notstandshilfebezieher_innen hingegen erhielten die dreifache Punkteanzahl – ihnen sollte das Projekt mit dem Ziel der autarken Selbstversorgung am ehesten zugute kommen. Drei Punkte gab es ebenso für den Eignungsnachweis als Bautischler oder -schlosser, zwei für mehrjährige Erfahrungen als Kleingärtner_in oder Tierzüchter_in, Menschen mit Kenntnissen im Tischlern, Malen und Anstreichen erhielten je einen Punkt.
Versteck. Die meisten Siedler_innen waren zwischen dreißig und fünfunddreißig Jahre alt und kamen – auch dies wurde mit einem Punkt belegt – aus Wien oder der angrenzenden Umgebung. In der Mehrzahl waren kinderlose Paare und Familien mit einem Kind, trotz vorab festgelegter Altersgrenze wurden in Ausnahmefällen auch Personen über sechzig aufgenommen. Der 23-jährige Malergehilfe Hans Schneider und die ein Jahr jüngere Haushaltsgehilfin Hedi Bock zählten zu den jüngeren unter den Siedlungswilligen, die vor Ort ein neues Leben begannen. In ihrer Parzelle züchteten sie nicht nur Obst und Gemüse, sie versteckten auch den Vervielfältigungsapparat der Floridsdorfer Kommunist_innen im Gartenhäuschen. Im Dezember 1942 wurden sie am Wiener Landesgericht enthauptet. Ihr widerständiger Geist lebt in den Gärten und Bauten fort, an die einige wenige Häuser in der Heinrich-Mitteis-Gasse bis heute erinnern. Sie stammen aus der zweiten Bauphase der transdanubischen Siedlung, ihre Reste mussten in den Sechzigern der Großfeldsiedlung weichen.

Glorit.

Nicht selten blicken die Bewohner_innen der angrenzenden Gemeindebauten mit Argwohn auf eine Vergangenheit zurück, die heute wieder Zukunft haben könnte. Die Comickünstlerin Gabriele Szekatsch lebt in einem der Häuser aus den Dreißigern, gebaut von ihrem Großvater, einem Obstbauingenieur. Nicht alle in der näheren Umgebung deuten den Rauch richtig, der beim Grillen über der offenen Feuerschale des Öfteren aus ihrem Garten aufsteigt. Das von ihr bewohnte Haus in der Lammaschgasse renoviert sie schon seit Jahren, das Baumaterial dafür stellt ihr niemand zur Verfügung. Die Behausungen der letzten autonomen Selbstversorgerexistenzen in Transdanubien werden stattdessen nach und nach von der Firma Glorit aufgekauft. Die Riviera der Armen am Wiener Donauufer wird zunehmend zum (Zweit-)Wohnsitz der Reichen – mit kajütenähnlichen Eigentumswohnungen auf ehemals solidarisch zur Verfügung gestelltem Boden. Als hätte es die Siedler_innen von Transdanubien nie gegeben.