Halb so wildvorstadt

Ankick zur «Wilden Liga Wien»

Fußball einmal anders – das verspricht das Kollektiv Wilde Liga Wien/Vienna Calcio Popolare. Kein Leistungsdruck, kein Referee, Basisdemokratie, Spaß und «All Genders Welcome». Mit großem Interesse besuchte Hannes Gaisberger den ersten Praxistest im Augarten.

Foto: Archiv Vienna Calcio Popolare

In drei Monaten von der Theorie zur Praxis: So rasant ging es für das Kollektiv Wilde Liga Wien. Zur Gründungsversammlung im Februar sind bereits 40 Personen ins Amerlinghaus gekommen, ein Zuspruch, mit dem die Initiatoren rund um den 29-jährigen Gymnasiallehrer Daniel Harrasser nicht gerechnet hätten. Nach ersten Debatten und einem weiteren Treffen im März, das noch mehr Interessierte angelockt hat, konkretisierte sich das Projekt zusehends. Erste Berichte geistern durch die Medien.

Eine wilde Liga, ohne Schiedsrichter_in, dafür mit basisdemokratischem Plenum und selbstgemachten Regeln? Man muss kein hanebüchener Traditionalist sein, um dem Vorhaben mit Skepsis zu begegnen. Das beginnt schon damit, dass ein Ligabetrieb nicht besonders wild sein darf, um funktionieren zu können. Man muss einen Termin und einen Spielort ausmachen und einhalten. Wenn man an wilden Fußball denkt, stellt man sich eine Grünfläche vor, einen Ball, zwei Pullover oder Rucksäcke als Tor, und wer gerade da ist, spielt mit.

Die Abwesenheit von Unparteiischen und das Hinterfragen der offiziellen Regeln sollen natürlich nicht zu einem rechtsfreien Spielraum führen, in dem letztlich das Recht des Stärkeren, des Rücksichtsloseren gelten würde. Wie stark wird in das konventionelle Regelwerk eingegriffen? Wie sieht das Spiel aus, das nach den in offenen Diskussionen erarbeiteten neuen, «wilden» Regeln gespielt wird?

Intensive solidarische Debatten

Um diese Fragen zu klären, gab es bei dem ersten Plenum im März Diskussionsrunden zu Themen wie «Dilettantismus und Tore zählen? Wie wollen wir spielen?» und «Fußball für alle Geschlechter – mehr als nur ein Lippenbekenntnis». Das Prinzip der Basisdemokratie erfordert «intensive solidarische Debatten», wie es die Wilde Liga Wien nicht ohne Augenzwinkern in ihrem Pressetext formuliert. Dort werden auch die Vorbilder genannt, von denen man sich inspirieren lassen hat: die Bunten und Wilden Ligen in Deutschland, die Tradition des Calcio Popolare in Italien sowie vieler nonkompetitiver und solidarischer Fußballturniere wie des Wiener-Ute-Bock-Cups, des Mondiali Antirazzisti in der Emilia und des No-Racism-Cups in Lecce.»

Nach einem weiteren Plenum im April waren viele Punkte geklärt und Ort und Termin für ein erstes Turnier festgelegt. Spätestens dort sollte zu begutachten sein, wie der Fußball der Wilden Liga ungefähr aussehen könnte. Derweilen galt es, sich mithilfe der offiziellen Texte eine Vorstellung des Kommenden zu machen. Vieles hört sich sympathisch an, einladend, offen. Die Werte «Gleichberechtigung, Diversität und gegenseitiger Respekt ungeachtet von Geschlecht, sexueller Orientierung, Religion oder Herkunft» werden allerdings auch vom verteufelten konventionellen Fußballverband seit Jahren gepredigt und angewandt. Daneben gibt es Formulierungen, die man im ÖFB wohl nicht unterschreiben würde: «Wir verstehen uns als Projekt, das dazu beitragen will, die Männerdominanz im Fußball zu brechen.» Die Verbands­oberen müssen allerdings keine Angst haben, es geht hierbei nicht um Quotenregelungen für Funktionär_innen, sondern lediglich um gemischte Teams.

Wilde Regeln

Ein erstes Reglement steht unter dem Titel «Wie wird miteinander gespielt» online. Besonders interessant sind die Passagen zu Situationen, für die im «normalen» Fußball ein_e Schiedsrichter_in zuständig ist. Also Fouls und Tätlichkeiten aller Art. Man baut darauf, dass sich die Teams selbst regulieren, etwaige Aggressor_innen von Teamkolleg_innen des Platzes verwiesen werden. «Taktische Fouls, wie überhaupt absichtliche Fouls an sich, sind verpönt, wie auch verbale Provokationen und Beleidigungen.» Im konventionellen Fußball ist all dies ebenfalls verboten und wird mit den dafür vorgesehenen Sanktionen geahndet. Die Wilde Liga Wien baut auf die Einsicht der Beteiligten, was im Regelfall funktionieren wird. Im Ausnahmefall ist man aber vermutlich in den Verbandsstrukturen besser geschützt. Man muss natürlich berücksichtigen, dass dies noch ein junges Projekt ist und sich vieles erst im Laufe der Zeit mit der Realität abgleichen wird. Von allzu groben Eingriffen hat man jedoch ohnehin abgesehen. «Es wird – der Übersicht halber – eine Tabelle geben, die man jedoch in verschiedene Richtungen lesen kann.» Zeit für einen ersten Test.

Am Samstag, dem 13. Mai ist in der Wilden Liga Wien erstmals der Ball gerollt. Bei dem Kick-off auf der Jahnwiese im Augarten hat ein knappes Dutzend Teams die graue Theorie auf dem grünen Rasen angewandt. Im Turniermodus jede_r gegen jede_n trafen meist geschlechter- und altersmäßig gemischte Teams aufeinander. Auf den ersten Blick war das Geschehen von einem gewöhnlichen Kleinfeld-Hobbyturnier, wo man auch nicht zwingend einen Schiri erwartet, nicht zu unterscheiden. Das ist eine gute Nachricht. Es wurde Fußball gespielt, ohne übertriebene Härte, jedoch mit der gebotenen Dynamik. Die sportlicheren Spieler_innen nahmen sich bewusst zurück, wie ich als Zaungast belauschen konnte. «Wenn es wirklich um was gehen würde, hätte ich eh voll draufgehaut.» Für den Anfang schien die Selbstregulierung der Kicker_innen zu funktionieren, kleinere Verletzungen waren meist Folge von «Umböckeln» oder mangelnder Fitness, wie Initiator Harrasser bei einem Plausch am Infostand bemerkt hat. Der sympathische Lehrer zeigte sich höchst zufrieden mit dem Geschehen und ist nach wie vor begeistert von dem Zuspruch, den das Projekt erhält.

Alternative Marktnische

Im Turniermodus hat die Wilde Liga Wien also schon funktioniert, als nächster Schritt wartet der Ligaalltag. Man könne sich über acht wild entschlossene und sechs Interesse bekundende Teams freuen, resümiert Harrasser nach dem Kick-off per Mail. Ab September soll der Ligabetrieb anlaufen, und bis dahin will man sich auch um das heiße Eisen Sportplätze kümmern. «Wir wollen dabei öffentlichen Raum für die Allgemeinheit zurückerobern, so viel können wir verraten.» Daneben werde man das Projekt mit weiteren Aktionen offen für alle halten, so Harrasser: «Neben dem Ligabetrieb können das Fußball-Workshops für FLIT-Personen (Frauen, Lesben, Inter- und Transsexuelle, Anm.) sein, oder Ballsportflashmobs. Freitag haben wir unser nächstes Plenum, da wollen wir unser weiteres Vorgehen besprechen.»

Es bahnt sich also nicht direkt eine ballestrische Revolution an, sondern eine Liga für Teams, die bis dato eher auf alternativen Hobbyturnieren anzutreffen waren. Eine alternative Marktnische für jene, denen Verbandsfußball zu steif und ein Parkkickerl zu wenig ist. Ob sich daraus ein innovativer, solidarischer Fußball entwickeln können wird, bleibt abzuwarten. An einem Spiel, das sich nahezu überall auf der Welt aufgrund seiner Klarheit und Schönheit durchgesetzt hat, gröbere Korrekturen vorzunehmen, ist nicht einfach. Um mit den Grußworten des Kollektivs zu schließen: Die Würde des Balles ist unantastbar!

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