Kolporteur Gerhard Geiger. Bemerkungen zum Faktotum der Gürtelbögen
Gerhard Geiger ist Augustin-Verkäufer am Wiener Gürtel. Über die Jahre ist er eine Kultfigur der Stadtbahnbogenlokale geworden. Man nennt ihn auch den Hut-Gerhard.Donnerstagabend in einem Stadtbahnbogen-Lokal: Die Luft ist heiß und stickig, es pfeift ein eisiger Schneesturm um die Hausecken. Vom Eingang bis zur Bar und von dort bis zur Bühne stehen junge Konzertbesucher dicht aneinandergedrängt und unterhalten sich. Dabei müssen sie gegen die Musik anbrüllen, die aus den Boxen dröhnt und den Boden zum Vibrieren bringt. Das Licht flackert unruhig. Es ist viel zu laut. Auf der schmalen Bühne stehen fünf verwuschelte Musiker mit Bubengesichtern und dünnen Beinen. Sie ringen um die Aufmerksamkeit des Publikums.
Gerade als es mir wirklich unbequem zu werden droht, schiebt sich die Menge auseinander. Ein Mann in einem dick wattierten, rotblauen Anorak drängt sich an den jungen Leuten vorbei. Wie alt er ist, lässt sich nur schwer schätzen: vielleicht zweiundvierzig, vielleicht aber auch schon Ende fünfzig.
Sein Rücken ist leicht gekrümmt. Auf dem Kopf trägt er einen riesigen schlammfarbenen Hut, der ihm nicht richtig zu passen scheint, denn er schiebt ihn mit dem Handrücken immer wieder zurecht. «Hallo, einen Augustin?», fragt er und hält die neueste Ausgabe der Wiener Straßen-Zeitung hoch.
Who the fuck is Hut-Gerhard? Es ist Gerhard Geiger, der einzige Augustin-Verkäufer, der den Gürtel guten Gewissens sein Revier nennen darf. Seit vielen Jahren klappert er fast jeden Abend alle Lokale unter und neben den Stadtbahnbögen ab. Jene, die ihn kennen, sagen auch Hut-Gerhard zu ihm. «Huat-Gerhard deswegen, weil ma die Leut immer Hüt schenken», sagt er und tippt sich an die Krempe des unförmigen graugrünen Klumpens, den er auf seinem Kopf trägt. «Und i setzs a auf, des is
kloar», lacht er.
Überhaupt ist Gerhard von oben bis unten dekoriert. Er trägt Buttons und Sticker verschiedener Vereine und Initiativen von Unibrennt bis hin zu einigen Online-Magazinen, alle haben dem lustigen Augustin-Verkäufer ihre Anstecker geschenkt. Gerhard ist eine wandelnde Werbefläche. Auf seiner prall mit neuen Augustin-Heften gefüllten Tasche prangen ebenfalls bunte Aufkleber. «Da is sie mir zrissen», sagt er und deutet auf ein Loch in der Tasche. «Weißt, es is schwer eine zum Finden, wo der Augustin reinpasst und ka Wossa durchgeht.» Ich verspreche ihm, bald eine neue mitzubringen.
Von der anderen Seite des Lokals winken ihm zwei Frauen. Gerhard nickt ihnen zu. Viele kennen und mögen ihn. In jedem Bogen des Gürtels wird er freundlich begrüßt. Mit der Zeit ist er eine Kultfigur geworden.
Hut-Gerhards Foto-Blog
Immerhin schlängelt sich der Hut-Gerhard seit fast neun Jahren mit seinem typischen Spruch «Hallo, einen Augustin?» durch die überfüllten Gürtellokale. Dabei wirkt er immer fröhlich und freundlich. «Wie solls ma gehen außer guat?», antwortet er auf die entsprechende Frage. Hie und da spendiert ihm ein Gast ein Getränk. Zum Dank gibt es dann die neuesten Geschichten rund um den Gürtel. Einer, der viel herumkommt, kriegt eine Menge mit. «Oben beim Chelsea steht dPolizei. Passts auf, wauns hamfoahrts», warnt er ein paar junge Männer, die gerade aufbrechen.
Wer sich den Augustin genauer ansieht, den Gerhard seinen Käufern in die Hand drückt, entdeckt einen kleinen Stempel am oberen Rand des Heftes. Er enthält Gerhards E-Mail-Adresse und den Link zu seinem Fotoblog auf der Web-Plattform Flickr. Fotos sind eine Leidenschaft des legendären Augustin-Verkäufers. Über sechs Jahre hinweg hat er die Besucher der Gürtel-Lokale abgelichtet und auf seinem Blog gesammelt. «Fast dreißgtausend sans scho», behauptet Gerhard.
Auf vielen Fotos ist Gerhard selbst zu sehen. Auf beinahe jedem davon streckt er dem Fotografen die Zunge heraus. «Ein bisserl ein Spaß muss auch sein», meint er und lacht. Gleich neben der Überschrift «Fotoblog von h_u_t_gerhard» ist ein Bild des Künstlers. Darauf trägt er ein besonders auffälliges Stück seiner Hutsammlung in Knallorange. Um die laufende Betreuung des Blogs kümmern sich die Betreiber des Café Carina. Der Hut-Gerhard gehört zum Gürtel, das Carina ist sein Wohnzimmer.
Die Band kündigt ihren letzten Song an, und Gerhard zieht den Zippverschluss seiner Jacke zu. Er muss weiter. 2,50 Euro kostet der Augustin. Die Hälfte davon gehört dem Verkäufer. Ohne den Augustin könnte er sich keine Wohnung leisten, erzählt Gerhard. Zusammen mit seiner Invalidenrente käme er aber durch.
Acht bis fünfzehn Stunden am Tag zieht er den Gürtel entlang und versucht, das «Obdachlosenblatt» anzubringen. «Owa i orbeit gern. Ma sicht a bissl wos von die Leit und kummt aussa. So a Bürojob des warat nix für mi», sagt er, bevor er sich verabschiedet und hinaus in die stürmische Nacht verschwindet.
Erstveröffentlichung des Textes auf www.fm5.at