Hardcore im ReichsbunkerArtistin

Augustin-Tipp für Anfänger_innen und Fortgeschrittene in Comics-Angelegenheiten

Martin Reiterer, Comics-Sachverständiger unter den Augustin-Mitarbeiter_innen, stellt erneut eine gezeichnete Geschichte vor. Das Comic-Buch «Lauter Leben!» ist eine Hommage an Punk und Gegenkultur. Reiterers Anliegen ist es, die letzten Ressentiments gegen Comics zu zerstreuen: Sie sind keine Massenzeichenware für Kinder und Jugendliche, sondern eine eigenständige Kunstform, die Aspekte von Literatur und bildender Kunst (auf gleicher Augenhöhe, wie manchmal wahrgenommen wird) vereinigt.«Pack deine Stiefel, wir hauen ab!» Erst Jahre später erinnert sich Thomas, einer der beiden Protagonisten in «Lauter Leben!», an die Aufforderung, die von seinem Jugendfreund Martin stammte. Das war Berlin, 1990er-Jahre, Punk- und Hausbesetzerszene. Jetzt sieht er sich in die Enge getrieben: Seine Ehe ist kurz davor, in Brüche zu gehen. In der Comicerzählung des Berliner Zeichners Mikael Ross und des Brüsseler Autors Nicolas Wouters folgen die Szenen umgekehrt aufeinander. Schicht für Schicht werden zwei Lebensläufe erzählt, in Rückblenden zusammengefügt, gegeneinandergehalten und, nachdem sie einmal auseinandergedriftet sind, ein weiteres Mal zusammengeführt. Schauplatz ist Brüssel und Berlin, zwischen Gegenwart und Vergangenheit, beginnend in den 1980er-Jahren, in denen auch die Autoren aufgewachsen sind.

In ihrer ganzen Unterschiedlichkeit und Gegensätzlichkeit, der eine schüchtern, angepasst, der andere frech und draufgängerisch, sind Thomas und Martin zwei komplementäre Typen. Die Anziehung, die sie als Kinder und Jugendliche füreinander gewannen, ergibt sich auch aus den Umständen, unter denen Martin aufwächst. Seine Eltern gehören einer mittelständischen Schicht an, sein Bruder ist stark behindert und beansprucht daher die mütterliche Fürsorge, während der Vater in seiner Computerarbeitswelt aufgeht. Die Kehrseite seiner emotionalen Verwahrlosung eröffnet dem Sohn einen Raum von Freiheit und des Nicht-Kontrolliert-Werdens, den er lautstark nützt und der auch das Interesse seines Freundes weckt. Als Jugendliche finden sie schließlich Zugang zur Punkszene.

Keine Beschönigung der Alternativwelt

Dass auch die Autoren eine Faszination für Punk und Gegenströmungen zur Mainstreamgesellschaft hegen, davon zeugen die Bilder. In abgestuften Rot-Grau-Kontrasten evoziert die aquarellartige Kolorierung eine einzigartige Gegenwelt-Stimmung, die sich in düsteren Kellergewölben besetzter Brüsseler Häuser oder etwa in einem ehemaligen Berliner Reichsbunker breitmacht und sich in Hardcore-Konzerten kristallisiert. (Die Entscheidung für den «Bunker» ist dabei rein ästhetisch und als solche durchaus überzeugend, während das Gebäude an der Friedrichsstraße historisch nicht mit der Punk- oder Hausbesetzerszene in Verbindung steht.)

Wie ein Ausruf des Erstaunens blitzt angesichts des bunten Treibens und Lebens in einzelnen Bilderszenen der Titel «Lauter Leben!» vor dem inneren Auge auf. Doch die Darstellung dieser Gegenwelt ist keineswegs durch Idealisierung oder Beschönigung vereinfacht. Im Gegenteil: Als Leser_in hat man ständig den Eindruck, die Situation könnte vom einen auf den andern Moment kippen. Unter der Oberfläche einer wilden Freiheit lauert eine jede Menge Gewaltbereitschaft und Unberechenbarkeit. Derartige Ambivalenzen schaffen die tragende Stimmung des Comics. Auf der Gegenseite schwelt der Traum von Freiheit, der Wunsch nach etwas, was er sich nicht gestattet, auch in Thomas, der inzwischen ein Familienleben mit Frau und Tochter führte, weiter. «Lauter leben!» hört sich dann als Imperativ an, als Aufruf und Zuspruch einer inneren Stimme.

Spannend ist, wie die Autoren zeichnerisch Déjà-vus erzeugen, um Beziehungen zwischen Gegenwart und Vergangenheit anzudeuten. So zieht sich etwa Thomas vor seiner Familie auf den Dachboden zurück, was sich als Replik auf das unaufgeräumt-verwilderte Kinderzimmer seines Kindheitsfreundes als Modell einer neuen Freiheit erkennen lässt. Die Hin-und-Hergerissenheit zwischen Angepasstheit und Unangepasstheit, die Zweideutigkeit von Sicherheit und Freiheit, als Konflikt eines einzelnen bekannt, überträgt der Comic raffiniert auf die beiden Hauptfiguren.

Info:

Nicolas Wouters & Mikael Ross: Lauter Leben! Aus dem Französischen von Annika Wisniewski. Berlin: avant-verlag, 2014