«Hass ist eine Droge»tun & lassen

Ist Hass mit Heroin vergleichbar? Und was hat Corona-Leugnen mit fehlendem Selbstwertgefühl zu tun? Der Pädagoge und Suchtexperte Heinz-Peter Röhr im Gespräch.

Interview: Dagmar Weidinger

Der Nahost-Konflikt, die Causa Weißrussland, Impfgegner_innen, Corona-Leugner_innen – Hass scheint allgegenwärtig. Wo kann die Gesellschaftstherapie ansetzen?
Heinz-Peter Röhr: Wir müssen beginnen zu verstehen, dass Hass wie eine Droge funktionieren kann. Wenn man beobachtet, wie Menschen gemeinsam auf der Straße Parolen skandieren, erkennt man, dass sie sich in einen Rausch hineinsteigern. Gleichzeitig treten in solchen Menschenmengen gehäuft rechte Rädelsführer auf, die wie Dealer fungieren. Den Hass immer weiter zu schüren, gleicht dem Verkauf von Drogen. Dabei ist es völlig egal, ob es sich um Hass gegen Migranten, Juden oder die Regierung handelt. Es geht immer um eine narzisstische Erhebung über andere, die das Selbstwertgefühl für einen kurzen Moment aufbläst. Hass hat insofern einen suchtartigen Charakter, als sich das Selbstwertgefühl – ähnlich wie beim Drogenkonsum – zwar kurzfristig, jedoch auf diesem Weg nicht auf Dauer stabilisieren lässt.

Wenn Hass eine Droge ist, wie zeigt sich das suchttypische «Craving»?
Wer eine Hass-Mail oder ein entsprechendes Posting schreibt, fühlt sich in dem Moment überlegen. Allerdings handelt es sich dabei um eine Scheinlösung. Bald ist die alte Bedürftigkeit wieder da, und es muss rasch nachgelegt werden. Hass hat einen suchtartigen Charakter, weil man nie genug davon bekommen kann. Ich vergleiche Hass mit Heroin, denn Heroin ist eine Droge, die besonders bei Narzissten funktioniert. Sie laden damit ihr Größenselbst auf und fühlen sich für eine Zeit überlegen, großartig und fantastisch. Das tut der Mensch, der hasst, ebenso. Natürlich wirkt Heroin oder Kokain viel stärker, aber Hass ist eine Droge, die man immer bei sich trägt.

Aber nicht jeder, der auf der Straße oder im Netz protestiert, ist doch narzisstisch?
In vielen Fällen weisen die Anführer ausgeprägt narzisstische Züge auf. Denken Sie an Donald Trump. Die amerikanische Soziologin Arlie Russell Hochschild deutete ihn so: Er gibt den Arbeitern ihre Würde zurück. Ich behaupte, ein Mensch, der selbst keine Würde hat, kann anderen keine Würde geben, aber er kann Hass schüren. Das ist die Methode der Populisten.

Wo genau gelingt es den Populist_innen einzuhaken?
Viele Menschen erleben sich selbst als wenig erfolgreich. Sie spüren intuitiv, dass es hier eine Möglichkeit gibt, ihr Selbstwertgefühl aufzublasen. Solche Veranstaltungen sind genauso infektiös wie ein Virus. Es kann daher auch sein, dass nach Abklingen der Pandemie vieles wieder abebbt. Ich sehe nur die Gefahr, dass rechte Gruppen hier ihr Süppchen darauf kochen, und manche Menschen dann in dieser rechten Ecke verbleiben.

Viele Menschen fragen sich dieser Tage, wie man an diese Menschen herankommt.
Die Menschen sind in diesem Moment gar nicht erreichbar. Der Versuch, mit Argumenten voranzukommen, muss notgedrungen scheitern, da es nicht um Wahrheit, Recht oder Unrecht geht. Es geht darum, das Selbstwertgefühl aufzublasen, das darf nicht aufhören.

Welcher Weg bleibt dann noch, wenn man in einen Dialog treten möchte?
Aufklärung ist zumeist nicht im direkten Dialog möglich. Manchmal ist es leichter, wenn Menschen eine Sache nachlesen können. Hass müsste gesellschaftlich geächtet werden. Ich sehe vor meinem geistigen Auge Plakate, eine Art Aufklärungskampagne über Hass und seine Auswirkungen nach dem Motto: «Hass macht dich krank» oder «Hass macht dich hässlich und depressiv». So ähnlich wie die Warnungen auf Zigarettenschachteln. Ich glaube, man muss die Menschen aufklären, dass Hass wie eine Droge starke Auswirkungen auf die eigene Persönlichkeit hat. Menschen, die solchen Hass produzieren, werden die Resonanz ihres Denkens auf sich selbst spüren, denn es entsteht so etwas wie Selbsthass und Depression.

Steht nicht möglicherweise die Depression an erster Stelle, und ist der Protest nicht eher ein Ventil für bereits vorhandenen Groll?
Klar, hier ist ein ständiger Groll, eine ständige Missstimmung in diesen Menschen. Und dieser Hass fördert diese Missstimmung, das ist ein Teufelskreis.

Würde eine Aufklärungskampagne, wie Sie sie vorschlagen, Menschen nicht möglicherweise noch weiter in die Enge drängen, da sie sich als schuldig oder falsch erleben? Könnte der Schuss also nicht auch nach hinten losgehen?
Man müsste zumindest die erreichen, die am Anfang stehen. Aufklärung sollte daher auch über die Schulen passieren. Ich fordere schon seit langem ein Schulfach «Psychoedukation». In meinem Buch Wie ich meinem Kind zu einem starken Selbstwertgefühl verhelfe habe ich inhaltliche und didaktische Konzepte dafür zusammengetragen, aber in Deutschland bin ich der «Rufer in der Wüste». In Dänemark gibt es schon seit langem ein Fach ab der Grundschule, in dem die Kinder eine Stunde pro Woche über ihre Gefühle reden. Und das, bis sie 14 Jahre alt sind!

Kommen wir zurück zur aktuellen Situation. Wie soll die Politik mit Corona-Leugner_innen, Masken-Verweigerung etc. umgehen?
Man müsste sich dringend fragen: Worum geht es hier eigentlich? Geht es wirklich um Sachargumente? Nicht wirklich. Es müsste verstanden werden, dass es um das Selbstwertgefühl geht. Politiker sollten sich daher fragen, wie spreche ich das Selbstwertgefühl dieser Menschen an. Je mehr man sie bekämpft, desto mehr werden sie sich dagegen auflehnen. Das kann also nicht der Weg sein. Hier gilt es Strategien zu entwickeln, durch die das Selbstwertgefühl besser berücksichtigt wird. Diese Menschen brauchen das Gefühl: Ihr seid trotzdem wertvolle Bürger.

Wo könnte die Politik ansetzen?
Zunächst einmal müsste man sagen: Es gibt bestimmt auch einige Punkte, bei denen diese Menschen Recht haben. Ein Dialog sollte genau da ansetzen – ihnen da Recht zu geben, wo sie Recht haben. Die europäischen Regierungen haben im letzten Jahr viele Fehler gemacht. Es wäre sicherlich günstig, diese zuzugeben. Ja, man hat zu wenig Impfstoff bestellt, ja, die Testungen sind viel zu langsam angelaufen. Das ist die Realität.

Translate »