Hass muss produktiv machen?Dichter Innenteil

Anstiftungen zum Wiederentdecken von Karl Kraus Teil 1

„Da ich zu keiner Partei gehöre, beleidige ich alle Parteien.“

(Lord Byron)

„Weil unser öffentlicher und mündlicher Strafproceß die Popularklage nicht kennt, habe ich ja zum Zwecke der öffentlichen, schriftlichen Popularklage die ,Fackel‘ gegründet.“

(Karl Kraus)

2024 wird sich Karl Kraus‘ Geburtstag zum hundertfünfzigsten, 2036 sein Todestag zum hundertsten Mal jähren. Ich will nicht so lange warten -und erwähle mir 2006 zum Kraus-Jahr.Debatten um den Satiriker, Popularkläger und Herausgeber der Zeitschrift „Die Fackel“ finden nur noch innerhalb der Universitätsmauern und Fachdiskurse statt. Draußen in der Welt steht er bestenfalls auf einem Schrein, vor dem Journalisten ihre Kerzchen anzünden- in der Hoffnung, dass sein Geist sie verschone. Manche von ihnen erstehlen durchs Zitat sich seine postume Komplizenschaft – und verachten ihn mit dem besten Wissen, dass er sie, wäre er ihr Zeitgenosse, klugem Spott preisgäbe.

Bei allem vorgeblichen Respekt verbindet man mit Kraus Elitarismus, narzistische Streitsucht, sprachliche Erbsenzählerei, Intoleranz sowie Insider-Ironie und kaum mehr nachvollziehbaren sprachlichen Duktus. Dabei liest man ihn kaum noch. Kraus verstehen lernen hieße in der Sprache denken lernen -und nicht nur mit ungeahnten Schätzen belohnt werden, sondern dort, im sprachlichen Denken, vielleicht das letzte wehrhafte Asyl einer Individualität zu finden, die diesen Begriff einzig verdiente.

Mit 24 Aufsätzen möchte ich zum Wiederlesen von Karl Kraus Appetit machen, dabei aber weder simplifizierende Einführungen noch gelehrte Fachtraktate vorlegen, sondern über selten begangene Schleichpfade kurze, intensive Vorstöße in die innersten Spannungsfelder von Kraus‘ Welt offerieren. Die Rückkehr ins Basislager sei dem/der Leser/in freigestellt. Biografisches und Anekdotisches werde ich nur einstreuen, wo es dem inhaltlichen Verständnis dient, um gleich vorweg dem Bedürfnis nach Enthüllung des Privaten und psychologischen Kurzschlüssen den Nährboden zu entziehen, mit denen es sich so leicht vor dem Verständnis des Werks drücken lässt.

Ein ganz tauglicher Weg, sich Kraus zu nähern, ist, ihn an den Vorwürfen seiner Gegner zu messen. Dabei werde ich ihn mindestens so selektiv und parteilich zitieren wie seine Kritiker. Denn ein Lebenswerk von 6000 Seiten (welche die 37 Jahrgänge der „Fackel“ ausmachen) lässt unendlich viele Projektionen zu, zumal Kraus sich jeglicher Systematik verwehrte und Widersprüche, deren man ihn überführen wollte, oft genug mit entwaffnender Ironie zugab.

Ein Kritiker braucht seine Humanität nicht zu beweisen

Dass der Kritiker verbittert und boshaft sei, weil er sich nicht mit bitteren und bösen Wahrheiten abfindet, ja, weil er uns partout die Lust, betrogen zu sein, nicht gönnen will, damit muss er leben. Die zerstörerische Freude an der Erkenntnis muss die Unlust am Verachtetwerden aufwiegen, sonst hätte er diese einsame Position nicht gewählt. Mit seinen Gegnern wird er fertig, schwerer schon hat er’s mit jenen Verteidigern, die ihm in den Rücken fallen, beim Versuch, ihn zu stärken: indem sie seine tiefe Humanität und Freundlichkeit bezeugen, aus der sich die Unerbittlichkeit seiner Kritik angeblich speise.

Seine Anhänger wurden nicht müde darzulegen, was für ein herzlicher, ausgewogener Gentleman Kraus im privaten Umgang gewesen sei. Aber was beweist das schon? Wer die ganze Welt gegen sich aufbringt, der bedarf umso mehr menschlichen Rückhalts, und wer wegen seiner Negativität ständig unter Charakterbeobachtung steht, der verwirrt seine Feinde auch mal aus Kalkül mit menschlicher Wärme, und sei es bloß, um die dumme Vorstellung von der konsistenten Persönlichkeit zu foppen; nur unrunde Persönlichkeiten haben Kanten und Ecken.

Der inquisitorische Instinkt der Psychoanalyse roch sofort, dass da was faul sein müsse. Wer so aggressiv ist, mit dem könne was nicht stimmen. Margarete Mitscherlich, die wenig von Kraus‘ Werk wusste, wohl aber, wo sein Wäschekorb zu finden sei, beargwöhnte diese Zeugnisse in einer postumen Analyse. Sie wäre sich dabei der Assistenz von Walter Benjamin sicher gewesen, der mit unvergleichlichem Gespür bereits in den 30er Jahren klarstellte, dass Humanität nicht das Motiv von Kraus‘ Hass war, sondern dessen fruchtbares Abfallprodukt:

„Nein! Diese unbestechliche, eingreifende, wehrhafte Sicherheit kommt nicht aus jener edlen, dichterischen oder menschenfreundlichen Gesinnung, der die Anhänger sie gerne zuschreiben. Wie höchst banal und wie grundfalsch zugleich ihre Herleitung seines Hasses aus Liebe, da doch auf der Hand liegt, wie viel Ursprünglicheres am Werke ist: eine Menschlichkeit, die nur der Übergang von Bosheit in Sophistik, von Sophistik in Bosheit, eine Natur, die die hohe Schule des Menschenhasses, und ein Mitleid, das nur verschränkt mit Rache lebendig ist. (…) Nichts widersinniger, als nach dem Bilde dessen, was er liebt, ihn formen zu wollen.“

Die Verteidigung des Charakters eines Kritikers ist schon Kapitulation und – zudem – Denunziation seines Werkes. Jemand wie Kraus braucht nicht pathetisch Tränen der Humanität verkneifen, wenn er einen Redakteur viviseziert, nein, es sei ihm grausamste sadistische Lust gegönnt; die Humanität ergibt sich als Produkt aus der Brillanz der Polemik und – vielleicht – aus dem praktischen Erfolg, dass der Redakteur sich nie wieder ein Wort zu schreiben traut.

„Was das ethische Mittelmaß ihm als Mitleidlosigkeit vorwirft“, erkannte Th. Adorno, „ist die Mitleidlosigkeit der Gesellschaft, die heute wie damals auf menschliches Verständnis dort sich hinausredet, wo Menschlichkeit gebietet, dass das Verständnis aufhört.“

Gegen Presse, Phrase und Kommerz

Hass müsse produktiv machen, sonst sei es gleich gescheiter, zu lieben, schrieb Kraus. Ob, wen und wann er geliebt hat, geht uns nichts an. Nicht einmal er, scherzte er, mische sich „gerne in seine Privatangelegenheiten“.

Es ist nicht schwer zu erraten, was heutzutage der Hauptvorwurf gegen Kraus wäre. Ein Zeitgeist, der die Intellektuellen dadurch entwaffnet, dass er sie darauf einschwört, ja nicht mehr Recht haben zu dürfen als der Nebenintellektuelle, würde sich fragen, woher Kraus die Impertinenz seiner Erkenntnissicherheit nehme; von welchem Wahrheitssystem, welcher Theorie aus er kritisiere. Die Antwort ist denkbar einfach: Kraus hat zeitlebens weder ein System noch einen positiven Bestimmungsort seiner Kritik vorgewiesen. Es ist die Negation selbst, aus der er schöpft. Er wartete nicht, bis ihm irgendeine Theorie oder ein hoch subventioniertes Institut für Sozialwissenschaften einen Kaperbrief ausstellte, er griff aus eigenen Stücken die Armada aus Presse, Phrase und Kommerz an.

So monoman sie auch wirkte, seine Kritik war stets am Puls der Zeit, in ihr erfüllte sich, was Adorno wahrer Philosophie konzediert: „Was in ihr sich zuträgt, entscheidet, nicht These oder Position, das Gewebe, nicht der deduktive oder induktive Gedankengang. Daher ist Philosophie wesentlich nicht referierbar. Sonst wäre sie überflüssig; dass sie meist sich referieren lässt, spricht gegen sie.“

Kraus‘ Sprache ist ein lebendiger Organismus, der sich dem entzieht, der ihn in Punkte, Positionen und Meinungen zerstückeln will. Keine wissenschaftlichen Begriffsaquarien können den Fluss seines sprachlichen Denkens fassen. Man muss schon leibhaftig hineintauchen, um das gewollte Zusammenspiel von Oberflächen-, Tiefen- und Gegenströmungen, Strudeln, Zuflüssen und Seitenarmen zu verstehen.

Wie links ist Kraus?

Kraus würde sich keiner Talk-Show, keiner Podiumsdiskussion, keinem „Kulturjournal“, keinem basisdemokratischen Tast-, Fühl- und Kennenlernseminar ausliefern, wo man heute Plauderton und „herrschaftsfreien Diskurs“ pflegt. Hinter dieser herrischen Herablassung entdeckten wir aber einen ehrfurchtsvollen Diener seiner Herrin, des sprachlichen Denkens, die er mit seiner vorgeblichen Arroganz vor der geilen Zudringlichkeit linker und rechter Kommunikation und Meinung bewahren wollte.

Apropos: Wie ließe sich jemand wie Kraus einem zeitgenössischen linken Denken dienstbar machen? Antwort: Gar nicht! Aber dieses könnte bei ihm in die Lehre gehen. Wie das? War es nicht Kraus, der frauenfeindliche und antisemitische Sentenzen am laufenden Band produzierte, den Rassisten Chamberlain in der „Fackel“ publizieren ließ, antidemokratische Gesinnung erkennen ließ, zum katholischen Glauben konvertierte, vom Adel schwärmte, Dollfuß gegen die Helden des 34er-Aufstandes verteidigte, dem zu Hitler „nichts einfiel“? Was verbindet solch einen mit linker Gesinnung, zumal doch seine Kapitalismuskritik bloß ethisch gewesen sein soll, er zwar einige Sozialisten, aber auch Bismarck und Franz Ferdinand verehrte, nicht an gesellschaftliche Bedingtheit der Geschichte, sondern das Walten großer Persönlichkeiten glaubte. Wie geht das zusammen?

Sollte es sich also um eine Reihe von Missverständnissen handeln, dass Kraus die höchste Wertschätzung ausgerechnet von Leuten wie Walter Benjamin, Bertolt Brecht, Max Horkheimer, Theodor Adorno, Ret Marut (alias B. Traven), Erich Mühsam, Elias Canetti, Kurt Tucholsky, Miroslav Krleza, Jura Soyfer, Hermann Gremliza oder Michael Scharang erfuhr? Glückliche Missverständnisse allemal, kraft derer linkes Denken immun wurde gegen Dogmen und Phrasen.

Die Kraus-Forschung einigte sich auf den Ablauf vieler Phasen im 40-jährigen Schaffen des Kritikers. Man spricht von einer frühen sozial-ethischen, anti-korruptionistischen Phase, die einer dekadenteren sprachkritischen wich und bis zum Vorabend des I. Weltkrieges in einer reaktionären kulminierte, der die nächsten Jahre eine zunehmend pazifistisch-sozialistische folgte, welche gegen Lebensabend wieder einem weltabgewandten Konservatismus gewichen sein soll. Um der Wahrheit näher zu kommen, halte man sich aber an seine radikalen Gegner und Befürworter, für die Kraus all die 40 Jahre hindurch die gleiche Lumpen- oder Lichtgestalt blieb. So ist die Qualität, die Kraus einer zeitgenössischen Linken beisteuern könnte, eine jenseits dieser angeblichen Phasen konstante:

„Ich bin bekanntlich“, schrieb er 1931, „keiner Partei Genosse, sondern stehe allen mit gleichmäßig abgewogener Missachtung gegenüber. Ich putschte selbst, packle nicht einmal mit mir und mache, ohne nach links oder rechts zu blicken, zugleich revolutionäre und reaktionäre Politik, kurzum, ich bin das, was die Idioten sämtlicher Parteien einen Eigenbrötler nennen.“

Von Kraus – so meine Arbeitshypothese (die in den nächsten 24 Aufsätzen Fleisch ansetzen wird) – können wir genau dort am meisten lernen, wo er uns am arrogantesten gegenüber tritt. Linke Kritik, das heißt eine solche, die nicht in Ausländerliebhaben und antiglobalistischem Sternsingen sich erschöpft, sondern erst bei der Überzeugung beginnt, dass der Kapitalismus Gegenkräfte braucht, die ihn das Fürchten lehren, lasse sich von Kraus inspirieren, indem sie – nicht als erste symbolische Geste des guten Willens, sondern ethische und intellektuelle Notwendigkeit – Wörter und Sätze aus der Sklaverei von Phrase, Floskel und Jargon befreit.

Literaturtipps:

Ein titanisches Opus hat Irina Djassemy mit ihrem Vergleich des Werks von Karl Kraus und Theodor Adornos vorgelegt, dessen geistiger Gehalt weit über diese Aufgabe hinauswächst. Ich verdanke ihrem Buch wertvolle Anregungen und Pfade zu Texten der „Fackel“.

Eine schön geschriebene Einführung ist die Rowohlt-Bildmonographie von Paul Schlick. Die zwei m. E. interessantesten Essays zu Kraus stammen von Walter Benjamin und Theodor W. Adorno.

Irina Djassemy: Der „Productivgehalt kritischer Zerstörerarbeit“, Würzburg 2002

Paul Schlick: Karl Kraus, Reinbek bei Hamburg 1965

Walter Benjamin: Karl Kraus. In: Illuminationen, Frankfurt/Main 1991

Theodor W. Adorno: Sittlichkeit und Kriminalität. In: Noten zur Literatur III, Frankfurt/Main 1980

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