Dannebergpredigt
Plötzlich wieder Bärte. Junge Männer tragen ihr Gesicht haarverhüllt. Nach männlicher Glatze und babyglatter Körperkahlrasur nun also wieder Haarwuchs. Was macht den Wandel in der Mode? Wieso ist heute etwas hip oder cool oder geil, was gestern noch Ekel hervorrief? Ich hegte kurz den Verdacht, es handele sich bei den zunehmenden Bartträgern um eine sichtbare Sympathieäußerung von Eingeborenen für die muslimische Community.
Meine Vermutung habe ich schnell wieder zur Seite gelegt. Sie mischte sich mit einem anderen Bild aus der digitalen Welt über täglich neue Trümmerfelder des Terrors. Was ich dachte, soll man nicht einmal kurz denken! Zu sehr bewegt frau sich auf einem Minenfeld rassistischen Misstrauens, gerät nichtsahnend hinein in ein Netz von Verdächtigungen und Vorurteilen. Dieses Feld wird beackert: Daham statt Islam, Grazer Amokfahrer ein Bosnier … Neueste Umfragen zeigen, durch welche Themen H.-C. die Zustimmung von vorwiegend männlichen, weißen, inländischen, mitunter kahlrasierten Mitmenschen gewinnt. Nicht wenige dieser Modernisierungsverlierer, die ihren Frust zunehmend bei Straches Anti-Ausländer-Repertoire abladen, hegen absolut keine Sympathie für Muslim_innen.
Bärte und lange Haare waren in meiner Jugend der 1970er Jahre Ausdruck von Protest. Achselhaare waren sexy. «Zum Teufel, wir wollen nicht so weitermachen. Ich will mein Haar nicht vom Stahlhelm frisieren lassen», heißt es im Musical «Hair» der späten 60er. Wiederentdeckte Bärte – vielleicht doch ein Protest gegen die Zwänge des aalglatten Körperkults? Aufbruch von Vorurteilen gegen bärtige Menschen aus anderen Kulturen?
Eine Freundin radelte bei warmem Wetter bloßärmelig vor sich hin, als an der Ampel neben ihr sich ein Auto einbremste. Drinnen saßen männliche, weiße, vermutlich eingeborene, glattrasierte Mitmenschen, die meiner Freundin im tiefsten Hernalser Slang zuriefen: «He Alte, rasier dir mal deinen Buschen unter den Achseln!» So unverblümt verächtlich ist meiner Freundin noch keiner im öffentlichen Raum gekommen. Das ging unter die Haut – die verbale Pograpsch-Variante. Also doch alles beim Alten.