Heimat ist eine Landkarte mit vielen Punkten …tun & lassen

… und Wien ist einer davon. Manche Austro-Chines_innen kamen als Kinder, manche um Arbeit zu finden, andere sind in Wien geboren. Gemeinsam ist ihnen, dass sie mit der Teigtascherlmafia wenig am Hut und rassistische Sprüche satthaben.

Text: Weina Zhao
Fotos: Jana Madzigon

Fangen wir mit dem Ende an, das gleichzeitig auch den Ausgangspunkt und das Dilemma dieser Reportage darstellt: «Danke, dass du zum besseren Verständnis über die chinesische Community beiträgst – zu der wir beide nicht gehören», sagt die Architektin Shi Yin zum Schluss ihres Interviews lachend.
Shi Yin und ich sind beide 1986 in China geboren und mit drei Jahren nach Wien gekommen. Hätten wir uns im Teenager­alter kennengelernt, wären wir wahrscheinlich keine Freundinnen geworden. Wir sind beide in dem Glauben aufgewachsen, dass wir nicht als Teil der sogenannten chinesischen Community wahrgenommen werden dürfen, wenn wir in Österreich «dazugehören» wollen. In Darstellungen über chinesischstämmige Menschen hierzulande haben wir uns nie repräsentiert gefühlt: Teigtascherlmafia, Menschenhandel, Chinarestaurant-Tycoons. Ungeniert wird in Klischees berichtet, beharrlich werden rassistische Stereotype verfestigt.

To be(long) or not to be(long)?

Als ich gefragt wurde, ob ich über die «chinesische Community» in Wien schreiben möchte, war mein erster Gedanke, diesen Begriff aufzulösen. Denn China ist so groß und kulturell vielfältig wie Europa, und niemand würde auf die Idee kommen, Österreicher_innen und Spanier_innen in einen Topf zu werfen. Doch Fakt ist, dass ca. 90 Prozent aller Chines_innen in Österreich aus Wen­zhou und Qingtian in der Provinz Zhejiang kommen und wiederum 90 Prozent in der Gastronomie arbeiten. Für sie ist die Community sehr wohl gelebte Realität.
So wie zum Beispiel für Xu Zhenghao, der seit seinem siebten Lebensjahr in Österreich ist und das Streetfoodlokal Tang betreibt. «Man fängt an mit dem, was man kennt, weil es einfacher und schneller ist», erklärt Zhenghao, der das Handwerk in den Restaurants seiner Eltern erlernt hat und nun in seinem eigenen Lokal versucht, die Geschmäcker seiner Kindheit wiederzufinden. Fast alle in seinem Freundeskreis sind chinesischstämmige Lokalbesitzer_innen, viele davon lernten sich in ihrer Jugend in der chinesischen Schule kennen, in der am Samstag Mandarin (Hochchinesisch) gepaukt wurde.
Auch Shi Yin musste dorthin gehen, fühlte sich allerdings nicht zugehörig. Sie hatte von Anfang an einen großen nicht-asiatischen Freundeskreis, mit dem sie ihre Liebe zur Musik teilte, die sie später im DJ-Kollektiv That Good Ẅibe Collective auslebte. Besonders in den französischen Hip-Hop konnte sie sich flüchten: «Ich verstehe mittlerweile, warum mir der so zugesagt hat, weil er einfach so viele Minoritätenprobleme anspricht, die mir jetzt erst bewusst werden, aber die mich anscheinend schon immer begleitet haben.»

«Woher kommst du?»

Für viele chinesischstämmige Menschen unserer Generation begann die Auseinandersetzung mit unserer Identität erst im Erwachsenenalter, obwohl wir alle bereits in unserer Kindheit auf Grund unseres Aussehens mit der rassistischen Variante von «Schere Stein Papier» oder dem Verziehen der Augen gehänselt und als anders markiert wurden. Für den Fotografen und Hochschulreferenten He Shao Hui trugen diese Ausgrenzungen dazu bei, dass er seine chinesischen Wurzeln über lange Strecken verleugnen wollte. Bei einem Spaziergang an einem grauen Winternachmittag durch Schönbrunn fragt er sich, ob es anders gekommen wäre, wenn es Strukturen gegeben hätte, in denen Traditionen kultiviert werden hätten können.
Shao Hui wurde 1977 in Wien als Sohn kantonesischer Eltern geboren, die Auslands­chines_innen in Vietnam und Kambodscha waren. Als der Bürgerkrieg ausbrach und sie ausreisen wollten, beantragten sie taiwanesische Pässe, weil es in Kambodscha keine offizielle Vertretung der Volksrepublik gab und sie keine Papiere hatten. Erst in Österreich bekamen sie die chinesische und 1982 schließlich die österreichische Staatsbürgerschaft.
Vorsichtig frage ich ihn, wo oder was für ihn seine Heimat ist. Mir ist bewusst, dass die «Woher kommst du»-Frage für viele People of Color einer ständigen Infragestellung unserer Zugehörigkeit gleichkommt. Wenn noch dazu Kriege, politische Verfolgung oder Armut die Migrationsgeschichte geprägt haben, kann diese scheinbar harmlose Frage an Traumata erinnern, die man nicht mit jedem teilen möchte. Shao Hui antwortet bedächtig, Heimat sei für ihn wie eine Landkarte mit vielen Punkten – und Wien ist einer davon.

Jia.

Auf Chinesisch stecken Familie und Heimat im selben Wort: Jia. Als ich die Gastronomin Chen Zhibin frage, ob sie Österreich als Jia bezeichnen würde, antwortet sie bezeichnender Weise, dass ihre Kinder ja jetzt in China seien. Aber wenn sie sich auf das geografische «Jia» bezieht, dann hat sie mehrere. Geboren wurde sie in Beijing, mit 14 Jahren kam sie durch die Landverschickungsbewegung in der Kulturrevolution in ein Dorf in Shanxi, wo sie ihre Jugend verbrachte. In Wien landete sie zu Silvester 1986, sie erinnert sich, wie die Menschen auf der Straße gefeiert haben, sie selbst spürte nur Einsamkeit.
Nach Österreich kam sie, um Gesang zu studieren und ihre Familie finanziell zu unterstützen. Damals war sie 31 Jahre alt und bereits eine etablierte Visagistin in China, doch wer die Möglichkeit zum Auswandern hatte, nutzte sie. Nach drei Jahren lernte sie ihren ebenfalls aus Beijing stammenden Mann kennen, mit dem sie auf Messen und Märkten chinesisches Kunsthandwerk verkaufte. Es war eine sehr harte Zeit und ein großer Kontrast zu ihrem Leben in China. «Aber meine Generation, die unter Mao aufgewachsen ist, teilt einen gemeinsamen Kampfgeist», erklärt Frau Chen.

Wie ein Pendel.

Die jüngere Generation, die hier aufwuchs, musste ebenfalls Kampfgeist entwickeln: «Am Anfang war Österreich der reine Horror, ich verstand kein Deutsch, ich musste gleich in die erste Klasse Volksschule, und das Essen war auch nicht gut», erinnert sich Xu Zhenghao. Erst in der Hauptschule konnte er sich unterhalten, aber als einziger Asiate in der Klasse war es nie leicht für ihn. Es sei ihm zugute gekommen, dass er von klein auf stärker gebaut war und so einen Vorteil bei Streitereien gehabt habe. Zu seinen Eltern ging er nie mit seinen Schwierigkeiten, weil sie ihm sprachlich nicht weiterhelfen hätten können. Seine Tochter hingegen könnte er heute unterstützen, wenn sie Probleme in der Schule hätte.
Auch He Shao Hui ist heute Vater, seitdem macht er sich Gedanken darüber, was er seinen Kindern weitergeben kann – von Sprache, Kultur und Traditionen seiner Familie. Sein eigenes Leben sieht er nun wie ein Pendel, das einst zu weit in eine Richtung ausgeschlagen hat: Während er früher den traditionellen Weg, der für ihn mit reinem Profitstreben verbunden war, abgelehnt hat und nur in österreichischen Gruppen Zugehörigkeit gesucht hat, versteht er nun auch die chinesischen Werte. «Die grundlegenden existenziellen Dinge müssen erst da sein, damit dein Geist frei werden kann, sich mit der spirituellen, metaphysischen Ebene auseinanderzusetzen», zitiert er aus den Lehren Buddhas.

Austro-chinesisch?

Während in englischsprachigen Ländern Mischidentitäten wie American Chinese schon längst etabliert sind, können alle meine Interviewpartner_innen mit dem Begriff austro-chinesisch nur wenig anfangen. Chen Zhibin fragt sich, was sie denn überhaupt von einer Österreicherin unterscheidet. «Ich finde meine Charaktereigenschaften eigentlich sehr ähnlich. Ich werde vielleicht nicht als Österreicherin gesehen, aber ich selbst fühle mich wie jemand von hier.»
Für Shi Yin sind Kategorisierungen überhaupt ein großes Problem; wenn sie sich in eine Kategorie zwängen müsste, gäbe es für sie immer ein großes Aber. «Das ‹Aber› bereichert mich allerdings, es macht mich speziell, es macht mich einzigartig», sagt sie. «Jeder hat seine Geschichte, und die sollte nicht durch Kategorisierungen flachgedrückt werden. Jeder ist spannend für sich.»