Phettbergiaden, dritter Teil
Dies ist eine Geisterkolumne, bekennt Hermes Phettberg einmal im Zustand höchster Resignation. Sie erscheint, obwohl ich nichts erlebe. Und niemand wird sie wohl auch lesen. In dieser Einsicht ist sowohl ein Nullpunkt als auch ein Anfangspunkt enthalten. Denn so wörtlich man diese Umdeutung des Begriffs ghost writing nehmen muss, so sehr drückt sich darin auch die unendliche Thematik seines Schreibens aus: Nichts erleben ist hier ein übertragener Ausdruck für eine Existenz, die aus der Gesellschaft schlechthin ausgeschlossen ist. Phettberg vollzieht in quasi masochistischer Manier an sich selbst noch einmal das Urteil der Gesellschaftsunfähigkeit, das die anderen über ihn bereits gesprochen zu haben scheinen. Und diese Unfähigkeit betrifft sowohl seine soziale als auch seine sexuelle Identität, sein Leben als brotloser Eigenbrötler ebenso wie seine sadomasochistische Homosexualität. An allen Ecken und Enden misslingt der Versuch, in langfristige Tauschverhältnisse zu treten. Wie ein widerständiges Echo auf diese Erfahrung liest sich demnach folgende Passage, in der Phettberg aus dem vollkommenen Ausgeschlossensein seine ganz persönliche Form des Weltbezugs ableitet: Indem ich auf ewig verschmäht wurde, hat sich bei mir eine hohe Aufmerksamkeit entwickelt.
Sigmund Freud hat in seinen Bemerkungen zur Kunst die These aufgestellt, dass es dem Künstler in seinem Tun gelingt, eine bestimmte Erfahrung der Enttäuschung bzw. des Mangels zu sublimieren und daraus etwas zu schaffen, das vollständig an die Stelle des ursprünglichen Begehrens tritt. In diesem Punkt erscheinen die Predigtdienste (und mit ihnen viele andere Beispiele großer Literatur) als ein einziger anti-freudianischer Aufschrei: Hier wird nämlich gar nichts sublimiert; hier wird das Begehren nach Gesellschaft, nach Liebe und Anerkennung in immer neuen Anläufen explizit gemacht. Hier tritt kein schöner Schein an die Stelle nackter, ungestillter Sehnsucht. Die Bilanz des Schreibens als vermeintlicher Ersatzhandlung fürs Nicht-Erleben fällt ernüchternd aus: So viel Sex und so wenig Erinnerung. Fünfmal gefickt reichte für 333 Predigtdienste.
Ich habe zu tun mit Selbstzerfleischen
Was genau sind die Predigtdienste dann? Das monströse Protokoll tausendfacher Erfahrungen des Zurückgewiesenwerdens? Das Scheitern am Versuch, diese Erfahrungen in eine lesbare literarische Form zu übersetzen? Das Letzte, was man von ihnen behaupten kann, ist, dass sie ästhetisch oder existenziell auf halbem Wege stehen bleiben. Es wird und wird kein Roman aus ihnen, sondern etwas anderes, beileibe nicht weniger Interessantes: Phettbergs Sprache ist, wie der französische Philosoph Gilles Deleuze sagen würde, eine Sprache des Werdens, stets unfertig, stets im Entstehen begriffen. Deleuze stellt in seinen Überlegungen die Vorstellung, Schreiben sei die Bearbeitung eines Stoffes zu einer vollendeten, fertigen, abgeschlossenen Form, auf den Kopf und schreibt der Literatur eine andere, völlig entgegengesetzte Qualität zu: Im Schreiben geschieht ein Frau-Werden, ein Tier- oder Pflanze-Werden, ein Molekül-Werden bis hin zum Unwahrnehmbar-Werden.
Eine solche Literatur unabschließbarer Metamorphosen erscheint bei genauer Betrachtung als zwiespältiges, erschöpfendes Unterfangen. An der äußersten Peripherie der Gesellschaft, ja des Lebens überhaupt, ist das Werden kein ausschließlich freiwilliges. Phettbergs Predigtdienste protokollieren auf unheimliche Weise die dunkle Seite des Werdens, die Haltlosigkeit einer tiefen Depression mit ihren vielgestaltigen Ursachen und Wirkungen. Depression ist entgegen der landläufig verbreiteten Ansicht nicht bloß individuelles Unglück, nicht nur schicksalhaftes Leid, das der Einzelne zu tragen hat, sondern in einem sehr viel allgemeineren Sinn der Ausdruck für die Unmöglichkeit jeglichen Werdens in Bezug auf die eigene Existenz ebenso wie hinsichtlich der sozialen Möglichkeiten. Von nichts berichten Hermes Phettbergs Predigtdienste so intensiv und vielschichtig wie von diesem Zusammenhang. Ich habe zu tun mit Selbstzerfleischen, formuliert Phettberg selbst die Art und Weise, wie sich die vollkommene Aussichtslosigkeit in seinem Inneren vollzieht. Der französische Psychoanalytiker Alain Ehrenberg skizziert in seinem Buch Das erschöpfte Selbst eine sozialpolitische Interpretation der Depression, anhand der sich Phettbergs Erfahrungsberichte aus dem inneren Schrecken in einem größeren Kontext verstehen lassen. Ehrenberg macht die gesellschaftliche Ursache für den Aufstieg der Depression zur massenhaften Zivilisationskrankheit in jener Privatisierung des Handelns aus, die sich im Zug der sozialen Emanzipation im Lauf der Sechziger- und Siebzigerjahre vollzieht. Das Individuum befreit sich von jenen Institutionen, die es bislang ebenso beherrscht wie beschützt haben (Familie, Kirche, Staat), muss dementsprechend aber auch die Folgen seines Handelns allein verantworten: Das private Handeln übernimmt die gesellschaftlichen Aufgaben des Staates, während das staatliche die privaten Modelle aufgreift. Das Bild des idealen Arbeiters ist nicht mehr das des Maschinenmenschen für repetitive Arbeit, sondern der flexible Unternehmer. Mit den Anforderungen wandeln sich die Probleme: Seit Mitte der 1980er Jahre verzeichnen Arbeitsmedizin und Unternehmensforschung die neue Bedeutung von Angst, psychosomatischen Störungen und Depressionen. Das Unternehmen ist das Vorzimmer der nervösen Depression geworden.
In Phettbergs Biographie vollzieht sich der Übergang vom Angestellten zum freien Unternehmer (sprich: Künstler) in den späten Achtzigerjahren. Zunächst noch in klassischer Verwaltungstätigkeit beschäftigt, verunmöglicht ihm sein deviantes Verhalten und seine daraus entstehenden psychischen Probleme einen weiteren Verbleib in dieser geschützten Sphäre. Durch die vom ORF produzierte Nette Leit Show wird er schließlich zum Entertainer allerdings ohne soziales Netz und ohne die Möglichkeit, sein radikales Außenseitertum gegen eine gesicherte Existenz im Showbusiness einzutauschen. Das Ende der Fernsehshow markiert gleichzeitig den Gang in die Isolation, deren Qualen er fortan in seinen Predigtdiensten schildert: Ich bin nicht sexy, leicht ältlich, extrem übergewichtig, es ist mir aufgrund schwerer Faulheit und Depressivität oft monatelang weder möglich, meine Blumen zu gießen, noch mich zu waschen. Niemals in meinem Leben gelang es mir, meine Zähne zu putzen, ich bin vollkommen ohne soziale Bindung, hatte noch nie eine Freundschaft, das heißt einen Menschen, der mit mir inniger und mehr redete, als über mich, von einer Liaison ganz zu schweigen. Warum lebe ich dessen ungeachtet? Ich kränke mich zu Tode und sterbe trotzdem nicht!
Mit Mäusen in gleicher Augenhöhe
Die Sprache der Depression, die Phettberg entwickelt, schwankt zwischen dramatischer Stilisierung und nüchterner Bestandsaufnahme und verweist damit auf die Grundstimmung der Ambivalenz, die sein Schreiben durchzieht. Unter- bzw. gebrochen werden diese Selbstbeobachtungen mitunter von Szenen der Interaktion bzw. Kommunikationsversuchen, in denen Phettbergs Beobachtungsgabe nach außen wandert und sich jener hohen Aufmerksamkeit befleißigt, von der oben bereits die Rede war. Er trifft auf (klarerweise) begehrenswerte Menschen, aber auch verblüffend oft auf Tiere, in denen sich zunächst seine eigene Inferiorität zu spiegeln scheint, die aber auch nicht weniger häufig eine Art Gegenüber bilden, das ihn und seine Existenz genauso zu beobachten scheint, wie er dies selbst tut. Legendär sind dabei sicherlich jene Mäuse, die seit Jahr und Tag seine Wohnung bevölkern und ihm eine Art von Gesellschaft leisten, die wiederum viel über die buchstäblich unschönen Berührungsflächen menschlicher und animalischer Existenz berichten. Die Mäuse erscheinen zunächst als unerbittliche Zeugen der fortschreitenden Verwahrlosung seiner Behausung, als Begleiterscheinung der Unfähigkeit, eine lebbare Form alltäglicher Existenz aufrechtzuerhalten. Seine Antwort auf die Plage lautet zunächst Gift, führt schließlich aber in eine ebenso skurrile wie tiefsinnige Betrachtung der eigenen Gestalt: Die Verhältnisse in meiner Wohnung sind so, dass die Südostkante des großen Küchentisches bis auf zwei Meter an die Klomuschel heranreicht. An seiner Nordwestkante aber liegt das Gift für die Mäuse. Viele Male und viele Stunden bei Tag und bei Nacht sitze ich auf meiner Muschel und betrachte die Mäuse beim Fressen des Giftes. Manchesmal halten sie inne und schauen herüber zu mir. Wir befinden uns dann Aug in Aug auf gleicher Höhe. Oft ist es in der Küche finster, nur die Klolampe brennt, sodass die Mäuse eine Gotteserscheinung größeren Ausmaßes haben dürften: Strotzend vor Ausdünstungen erstrahlt mein gewaltiger Leib eingezwängt in einem winzigen, weißgekachelten Klo und schaut.
In solchen Momenten entsteht aus der verzweifelten Isolation heraus wiederum ein kommunikativer Kreislauf wenngleich nur in der Form eines inneren Monologs. So abstrus die Vorstellung von denkenden Mäusen zunächst klingt, so bemerkenswert erscheint die Ernsthaftigkeit und Genauigkeit, mit der Phettberg sich vorzustellen versucht, was sie gerade denken, wenn sie denken könnten. Die Beobachtung löst Assoziationen aus und wird anschließend mit einer Interpretation versehen, deren Nüchternheit einem Verhaltensforscher alle Ehre machen würde. Hier wird sichtbar, inwiefern dem Schreiben und dem darin sich vollziehenden Werden sehr wohl wieder etwas Rettendes innewohnt: Auf der Rückseite der Verzweiflung entsteht ein ebenso bizarrer wie unendlicher poetischer Raum der Imagination, der sich von den Bedrängungen der Wirklichkeit nicht vollständig kolonisieren lässt.