60 Jahre ’56: ungarische Wiener_innen erzählen (Teil 1)
60 Jahre ist es her, dass Ungarn den Aufstand probte. Nachdem der Versuch, Demokratie und Neutralität einzuführen, von Chruschtschows Truppen niedergeschlagen wurde, verließen 200.000 Menschen das Land. In den beiden Oktoberausgaben des Augustin lassen wir ungarische Wiener_innen zu Wort kommen. Lisa Bolyos hat mit einem Kaufmann und einer Historikerin darüber gesprochen, wofür 1956 steht, wie sie Ungarn heute betrachten und ob «Bécs» ein Zuhause sein kann.
Foto: Lisa Bolyos
Herrn Adler treffe ich in der Schönen Perle im zweiten Bezirk. Wir trinken Kaffee, und es ist eigentlich viel zu laut, um sich zu unterhalten. Herr Adler ist fast achtzig. Rechnen wir die Jahrzehnte zurück, war er 19, als er Ungarn verlassen hat. «Es war schon Dezember, und ich bin mit einem Freund Richtung Szombathely gefahren. Wir sind eine Station vorher in Vép ausgestiegen, weil wir in der Stadt Kontrollen befürchtet haben. Wir sind zu Fuß durch die Orte gegangen, vor einem Haus stand ein Panzer, dem mein Freund einen Kompass ausgebaut hat, für die bessere Orientierung. Irgendwann war da ein Licht – nicht zwei, wie von Autos, sondern eines, also ein Zug. Auf den sind wir zugegangen. Ich habe eine Stimme gehört, die hat Deutsch gesprochen. Ich weiß bis heute nicht, wo wir über die Grenze gekommen sind.» Es war nichts Heldenhaftes daran, sagt er. Kein Motiv dahinter, das die Unterlippe zittern lässt. Er ist einfach aufgebrochen.
Wenn er sich an Ungarn damals erinnert, gab es keine merkbaren gesellschaftlichen Unterschiede, aber es wurde eingeteilt «in Arbeiter, Bauern und Sonstige. Und wir waren Sonstige.» Auf die Elektrotechnikschule, auf die er gern wollte, gingen keine «Sonstigen». Und einen Platz an der Uni hätte es für ihn wohl auch nicht gegeben.
Herr Adler hat mit seiner Mutter in Budapest gewohnt, zwischen Szabadság tér und Erzsébet tér, unweit der Szent István Basilika. Arbeit fand er bei Chinoin, einer Pharmafirma, angesiedelt in der Budapester Vorstadt. Dort hat es ihm eigentlich gut gefallen. Als er eines Dezembertages 1956 zum Betrieb kam, waren die Tore zu. Niemand mehr da. Die Pharmazeut_innen hatten das Land verlassen. «Es war klar, den Arbeitsplatz wird es so schnell nicht mehr geben. Was hätt ich also in Budapest anfangen sollen?»
1956: eine Kiste voller Projektionen
Letztes Jahr war oft von 1956 die Rede: Damals hatte Österreich nämlich bereitwillig die Grenzen aufgemacht, dieselben, über die jetzt wieder Menschen kommen. Weil es sich anbot, sich im Kalten Krieg vom «kommunistischen Osten» zu distanzieren, oder sich vom Massenmord zu rehabilitieren, der nur ein Jahrzehnt und ein bisschen was zurücklag; weil da Menschen kamen, die Unterstützung brauchten, oder weil sie die Grenzen zur Not auch selbst geöffnet hätten. Jedenfalls wurde damals die magere Holzbrücke von Andau zum Symbol der Solidarität: 70.000 Menschen sollen sie auf ihrem Fluchtweg gequert haben, bevor sie Ende November 1956 gesprengt wurde. 1996 hat man sie wiederaufgebaut, als Zeichen der Freundschaft und der Überwindung von Grenzen. 2016 ist das nun alles ein bisschen peinlich, dieses Andau mit seiner großen Geschichte, wo heute wieder Soldaten stehen, um die Überwindung eben dieser Grenze zu behindern.
Auch in Ungarn ist 1956 eine geschichtspolitische Projektionskiste geworden, in die alles Mögliche reinpasst. Den Vergleich der 1956er- und der 2016er-Flüchtlinge höre man allerdings nicht gern, meint Regina Fritz, Historikerin an den Universitäten Wien und Bern. Sie zeigt mir den offiziellen Imagefilm, der gedreht wurde, um über die Interpretation von 1956 keine Zweifel aufkommen zu lassen. Arbeiter_innen bei der Weinlese, Studierende im Hörsaal, Bäcker, Pianisten, gelangweilte Mütter am Spielplatz: Sie alle bedanken sich darin mit carmina-burana-artiger Hintergrundmusik bei den 1956er-Held_innen. Ob denen so gut gefallen würde, dass sie für die Orbán-Regierung gekämpft haben sollen?
Regina Fritz ist in den 1990ern 13-jährig nach Wien gekommen. Die Familie entschied sich aus beruflichen Gründen zu einem Umzug. «Am meisten vermisse ich die Sprache», sagt sie auf meine Frage, ob Wien ein adäquates Zuhause geworden ist. «13 ist ein Alter, in dem man die Muttersprache schon sehr gut beherrscht, aber doch nicht gut genug, um darin zu philosophieren. Die Fachsprache hab ich auf Deutsch gelernt. So bleibt das Gefühl, ich bin in keiner Sprache richtig zu Hause.» Ihr Forschungsgebiet ist Geschichtspolitik, sie promovierte zur Erinnerungsgeschichte des Holocausts in Ungarn.
«Bei der Auseinandersetzung mit Geschichte geht es in Ungarn immer sehr stark um die Außenwirkung.» Das Budapester Holocaust-Museum beispielsweise sei punktgenau zum EU-Beitritt eröffnet worden. «In außenpolitisch relevanten Momenten setzt man sich kritisch mit diesem Teil der Geschichte auseinander.» Überhaupt sei die Regierung Orbán gut darin, die Geschichte für sich arbeiten zu lassen: «Da wird der derzeitige Forschungsstand gern mal ‹übersehen› und lieber auf die Aspekte gesetzt, die sich zur politischen Mobilisierung eignen.»
1956, meint Regina Fritz, sei bisher trotz Gedenkjahr nicht allzu stark funktionalisiert worden. «Vielleicht weil sich alles aufs Referendum konzentriert hat.» Was jedoch auf der Hand liege, sagt sie, ist, dass die Regierung in Erinnerung an 1956 den Freiheitsbegriff stark macht: «Das unabhängige, freie Land gegen die großen Mächte – damals gegen die Russen und heute gegen die Europäische Union –, das ist die Leitlinie des Narrativs.»
Ein Wiener werden
Zurück in den Winter 1956: Das sind Herr Adler und sein Freund gegen die behördlichen Regelungen nicht in das eilig eröffnete Traiskirchen, sondern nach Wien gefahren. Als Unterkunft wurde ihnen das Flüchtlingslager in der Schule am Ottakringer Mildeplatz zugeteilt, zwischen Mannerfabrik und Vorortelinie. Manchmal ließ sich Arbeit finden. In der Opernpassage haben die Ungarn-Flüchtlinge sich getroffen, um Informationen auszutauschen, erzählt er; da war in dem Rondeau noch keine Anker-Filiale, sondern ein ganz normales Café.
Sein Freundeskreis war bald durchmischt. Er lernte seine erste Frau kennen, eine Wienerin, er fand eine Anstellung, bekam seine Aufenthaltspapiere. Und langsam wurde er selbst zum Wiener. Er versuchte ein Weilchen, an der TU zu studieren, aber Arbeit und Studium gleichzeitig, das ging sich hint’ und vorn nicht aus. Er arbeitete erst als Heiztechniker und wechselte später in kaufmännische Gefilde. In Wien war ihm der berufliche Erfolg von vielen, aber nicht von allen vergönnt. «Zuerst fanden es noch alle sympathisch, aber sobald das Geschäft besser gegangen ist, haben sie gesagt: He, der ist hergekommen mit nichts und jetzt das. Am Anfang hab ich mich gekränkt, aber dann hab ich gesagt: Rutscht mir den Buckel runter.»
Anständige Katholiken
Es ist ein sonniger Tag Ende September, wenige Tage vor Rosh Hashanah. Herr Adlers Großmutter, sagt er, sei noch eine streng gläubige Jüdin gewesen; er selbst ist nur noch «drei Tage im Jahr jüdisch: Rosh Hashanah, Jom Kippur … und der dritte fällt mir jetzt nicht ein.» Herr Adlers Vater wurde irgendwo zwischen Köszeg und Rechnitz am «Todesmarsch» von den Nazis ermordet. Mit seiner Mutter entkam er, der Siebenjährige, knapp einer Deportation und wurde von einem katholischen Priester versteckt: «In abgedunkelten Räumen, vier oder fünf Monate lang. Ich weiß nicht mehr, was man da gefühlt hat. Als Kind war das nicht so schlimm.» Den Priester hätte er später gerne aufsuchen wollen, um sich zu bedanken, aber das hat er verpasst. «Jedenfalls hab ich dadurch eine andere Einstellung: Es gab auch anständige Katholiken.»
Wenn Herr Adler heute nach Ungarn blickt, ist das nicht mehr sein Zuhause. Ob er jemals daran gedacht hat, wieder dorthin zu ziehen? «Wieso sollte ich?» Aber was in Ungarn passiert, berührt ihn: «Ich muss mich zurückhalten auf Facebook.» Selbst seine jüdischen Freunde, sagt er, wählen teilweise Orbán, weil sie fürchten, dass sonst die rechtsradikale Jobbik an die Macht kommt. «Es gab bis jetzt in Pest am Szabadság tér, wissen Sie, wo der ist?, einen Erinnerungsort. Dort, wo das Denkmal gegen die deutsche Besatzung steht, hat man Fotos und verschiedene Erinnerungsgesten angebracht, um das Gedenken zu gestalten. Jahrelang war das so, nichts ist geschehen. Letzte Woche haben sie alles abgerissen und vernichtet und beschmiert. Es wird schlimmer.»
Ungarn 1956 – eine ganz
kurze Geschichte
1956 regierte in Ungarn Mátyás Rákosi. Den ehemaligen Ministerpräsidenten Imre Nagy hatte er ein Jahr zuvor entmachtet. Doch selbst Rákósi musste sich im Zuge der beginnenden Entstalinisierung (Stalins Tod lag bereits drei Jahre zurück) einer Reihe von Reformen beugen. Ermutigt durch die sich ändernde Stimmung im eigenen Land und sanfte Demokratisierungsversuche in Polen gingen auch in Ungarn Student_innen auf die Straße. Die Massenproteste, die daraus erwuchsen, mündeten in den «Ungarischen Volksaufstand» vom 23. Oktober 1956. Imre Nagy wurde wieder zum Ministerpräsidenten ernannt. Am 1. November gab er die Neutralität Ungarns und den Austritt aus dem Warschauer Pakt bekannt. Am 4. November griffen sowjetische Truppen Budapest an. Imre Nagy wurde verhaftet und später neben 350 Anderen hingerichtet. Neuer Ministerpräsident wurde János Kádár. Rund 200.000 Ungar_innen verließen als Flüchtlinge das Land. Der 23. Oktober, an dem im Jahr 1989 auch die Ungarische Republik ausgerufen wurde, ist in Ungarn Nationalfeiertag.