Herr Groll auf Reisen. 279. FolgeDichter Innenteil

Korneuburg-Southampton: noble Räder und ein Fliegenschiss

Groll und der Dozent waren auf dem Treppelweg an der Donau unterhalb von Korneuburg unterwegs. Der Dozent wollte Groll etwas über die schandvolle Geschichte der Wiener Ruderclubs in der NS-Zeit erzählen. Mit dem Ruderklub «Pirat» wollte er vor dessen Bootshaus am kleinen Austreifen zwischen der Autobahn und dem Fluss den Anfang machen. Der rege Verkehr auf dem Radweg machte es den beiden unmöglich, nebeneinander zu gehen.

Gestrandet, voll Fliegenschiss

Bild: Mario Lang

Die zivilen Radler waren nicht das Problem, sie gaben rechtzeitig Signal und fuhren vorsichtig. In schroffem Gegensatz dazu schossen die Radsportler mit ihren sündteuren Rennmaschinen und den uniformgleichen Trikots an den beiden vorüber, den Blick nicht auf den schmalen Weg gerichtet, auch nicht auf die Donau, sondern auf den Zeitmesser am Handgelenk. Die Leichtmetallräder mit ihren profillosen Reifen waren erst im letzten Moment zu hören, auf ein akustisches Warnzeichen verzichteten die gestressten Pedalritter. So glich der Gänsemarsch der beiden Freunde einem Spießrutenlauf; nach ein paar Dutzend Metern brachen die beiden daher den Versuch ab, zwängten sich in einen schattigen Weg und rasteten. Wenig später debattierten sie über zwei Zeitungssauschnitte, die Groll mitgebracht hatte. Auf der kleinsten Republik der Welt, der nur einundzwanzig Quadratkilometer großen Pazifikinsel Nauru, unterhalte die australische Regierung ein Flüchtlingslager, las er laut: «Der iranische Flüchtling Sam Nemati war mit seiner achtjährigen Tochter Aysa zwei Jahre lang in dem Lager festgehalten worden, bevor er in einer Gemeinde angesiedelt wurde», fuhr Groll fort. «Weil er die Wohnung gewechselt hatte, damit seine Tochter bei anderen Kindern sein konnte, wollte ihn die Polizei zur Räumung zwingen. Daraufhin versuchte der Flüchtling, sich das Leben zu nehmen. Er überlebte, aber noch im Krankenhaus wurde er angeklagt. Die Staatsanwaltschaft forderte zwei Monate Haft, das Gericht verurteilte den verzweifelten Mann zu umgerechnet 140 Euro. Gemäß der harten australischen Einwanderungspolitik werden Bootsflüchtlinge, die nach Australien wollen, in Lager auf Nauru oder Papua-Neuguinea gebracht. Selbst wenn ihr Asylantrag angenommen wird, können sie nicht nach Australien weiterreisen, sondern müssen in den Anlaufstaaten verbleiben.»

«Nicht einmal der Selbstmord ist den Ärmsten gestattet, das nenne ich Abschreckung», rief der Dozent.

«Nicht so laut!» Groll schaute erschrocken um sich. «Wenn der burgenländische Landeshauptmann und sein Verteidigungsminister das hören! Sie möchten sich ein Beispiel nehmen.»

Der Dozent schüttelte den Kopf und las den zweiten Artikel. «Geschätzter Groll, hören Sie zu! Da läuft ein Autotransporter aus Southampton mit dem Ziel Bremerhaven aus, an Bord 1400 PKW der Nobelmarken Rolls Royce, Bentley, Jaguar. Eine Stunde später läuft das große Schiff infolge verrutschter Ladung auf einer Sandbank des Solent, des Meeresarms nahe der Insel Wight, auf Grund. Es stellt sich heraus, daß das Schiff falsch beladen war, in den unteren Decks waren keine Autos geladen, als sich in den oberen Decks des hochhausgleichen Transportschiffes schlecht vertäute und gesicherte Autos selbständig machen und an eine Schiffseite schlingerten, wurde die Hoegh Osaka manövrierunfähig und strandete wie ein kranker Wal. Immerhin war noch Glück im Unglück mit im Spiel, die Tiefwasserfahrrinne war nicht blockiert. In Southampton befinden sich die größte Ölraffinerie Englands und der zweitgrößte Containerhafen. Die berühmten Kreuzfahrtschiffe der Cunard Line Queen Mary 2, Queen Victoria und Queen Elizabeth haben in der Stadt ihren Heimathafen, ebenso wie die englische Küstenwache. Das halbe Land wäre stillgestanden.»

«Die Titanic ist 1912 von Southampton zu ihrer katastrophalen Jungfernfahrt nach New York ausgelaufen; die Stadt scheint Havarien und Unglücke anzuziehen», erwiderte Groll.

«Anders als der arme Iraner auf Nauru waren die für den Weltmarkt bestimmten Nobelkarossen versichert», bemerkte der Dozent.

«Gegen den Vorderreifen eines Bentley ist ein Menschenleben ein Fliegenschiss.»

Der Dozent runzelte die Stirn.

«So lautet der Name der australischen Gefängnisinsel: Nauru heißt in der Sprache der Inselbewohner ‹Fliegenschiss›. Und wie ein Fliegenschiss werden die Flüchtlinge von der zivilisierten Staatenwelt behandelt», schloss Groll.

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