Erinnerung an eine Gerechte unter den VölkernDichter Innenteil

(Foto: Mario Lang) Ein städtebauliches Kleinod

Herr Groll auf Reisen (393. Folge)

Der Dozent erzählte seinem Freund Groll von einem Radausflug nach Sopron, den er am Ostersonntag 2018 unternommen hatte. Die Stadt sei wie ausgestorben gewesen, nur ein paar Kirchgänger hätten sich nach der Messe am Hauptplatz zu einem Tratsch zusammengefunden. Der Dozent schnappte ein paar Brocken Deutsch auf und als er sich näherte, bemerkte er, dass zwei alte Männer und eine betagte Frau in eine Auseinandersetzung verstrickt waren. Daraufhin habe er ein paar Handgriffe an seiner Rennmaschine vorgenommen, um nicht als unerwünschter Mithörer aufzufallen.

«Ich wurde Zeuge einer denkwürdigen Auseinandersetzung», berichtete der Dozent. «Ein groß gewachsener Schnauzbartträger führte das Wort. Dass die Elza Brandeisz endlich gestorben sei, erfülle ihn mit Erleichterung, hundertzehn Jahre seien genug gewesen. Der zweite Mann, ein Glatzkopf mit Spitzbauch, nickte. Eine zierliche alte Dame mit einem grünen Hut hielt dagegen. Die Elza Brandeisz sei eine Zierde für die Stadt gewesen, aber anstatt sie zu ehren, würde man ihr noch ins Grab nachspucken, sagte sie in einem wunderschönen altmodischen Deutsch. Ihre Stimme war schnarrend, wie man es bei älteren Ungarinnen oft antrifft. Ein Glücksfall, denn so konnte ich den Disput mitverfolgen, ohne allzu nahe treten zu müssen. Die Brandeisz habe es mit Ungarn nicht gut gemeint, behauptete der Große, anstatt ihren Beruf als Tänzerin auf anständige Art und Weise auszuüben, sei sie einer dekadenten Tanzmode verfallen, die damals im Schwange war, ein unwürdiges Gehüpfe mit obszönen Verrenkungen. Fürchterlich, sagte der Spitzbauchige. Was da verunglimpft werde, sei der moderne Ausdruckstanz, der damals von Deutschland ausgehend, seinen Siegeszug antrat, sagte die alte Dame. Auch die aus Rust stammende Elza Brandeisz sei nach Dresden gegangen, wo sie Kurse bei der berühmten Tänzerin Mary Wigam belegte. Zurück in Ungarn habe sie in einer Tanzschule in Budapest gearbeitet. Als die Nazis im März ’44 einmarschierten, rettete Elza Brandeisz die jüdische Besitzerin und deren Familie, indem sie Visa für Portugal beschaffte. Und im Frühling 1944, als vierhunderttausend ungarische Juden unter der Leitung der Österreicher Kaltenbrunner und Brunner in die Vernichtungslager transportiert wurden, versteckte sie eine jüdische Familie in einem Weingartenhäuschen am Plattensee und rettete deren Leben. Der Sohn dieser Familie, er war damals vierzehn Jahre alt, hieß György. Nach ’56 flüchtete der junge Mann nach England, arbeitete in allen möglichen Gelegenheitsjobs und studierte an der London School of Economics. Er nannte sich George und sein Name wurde später weltberühmt: Soros, George Soros.

Elza Brandeisz habe noch bis 1963 als Tanzlehrerin gearbeitet, danach sei sie ins Museumsfach gewechselt und habe das Storno-Haus am Hauptplatz von Sopron betreut, führt die alte Dame aus. Sie organisierte Führungen und erklärte Welteinschätzung und Lebensstil des frühen ungarischen Bürgertums. Und George Soros, der als Währungsspekulant und Finanzinvestor unermesslich reich geworden war, durfte Elza kein Geld geben. Sie freute sich zu den Feiertagen aber sehr über seine Briefe aus New York. Erst als sie schon gebrechlich war, hoch in ihren Neunzigern, erlaubte sie ihm, die Kosten für eine Nurse zu tragen. Sie wohnte neben dem Storno-Museum in einem eigenen Haus. 1995 wurde Elza Brandeisz von Israel schließlich als Gerechte unter den Völkern ausgezeichnet. Dann schaute sie den Mann verächtlich an und verließ den Kirchenvorplatz. Der Schnauzbartträger und der dicke Glatzkopf starrten der Frau hinterher. Ich habe dann meine fingierte Radreparatur beendet und machte mich auf zum Storno-Haus. Wenn Elza Brandeisz auch drei Monate zuvor verstorben war, etwas von ihrer Aura musste sich in dem Museum noch gehalten haben, so war meine Überlegung.»

«Und? Wie war das Ergebnis?», erkundigte sich Herr Groll.

«Das Haus und die Räume atmen bis heute den Geist von Weltoffenheit und Kunstverstand. In meinen Augen stellt es im gegenwärtigen Ungarn einen der wenigen verbliebenen Brückenköpfe der Zivilisation dar. Was mich seit dem Besuch im Storno-Haus aber auch beschäftigt, ist die Frage, ob in Rust, der Geburtsstadt von Elza Brandeisz, in einem Denkmal oder zumindest einer Gedenktafel der großen Töchter der Stadt gedacht wird.»

«Lassen Sie uns nachschauen», sagte Herr Groll.

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