Hier regieren Expert_innentun & lassen

Die Expert_innen sind eine neue Figur auf der politischen Bühne. Nach Ibiza sollten sie das ganze Land retten, nach Aschbachers Seepocken-Skandal zumindest den Ruf der türkis-grünen Regierung. Die Politikwissenschaftlerin Birgit Sauer im Gespräch über Expertise, Politik und die Sehnsucht nach Hard Facts.

Interview: Christian Bunke
Foto: Jana Madzigon

Mit Martin Kocher ist ein ehemaliger wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Höhere Studien, ein Verhaltensökonom und ein ehemaliger Leiter des Fiskalrats zum Arbeitsminister gekürt worden. Weil er außerdem parteilos ist, wird er medial als «neutraler Experte» präsentiert. Was steckt hinter solchen Zuschreibungen?
Birgit Sauer: Es spielen hier mehrere Dinge eine Rolle. Kocher kommt als «Experte» in die Regierung. Wir hatten allerdings nach dem Ibiza-Skandal bereits eine ganze Expert_innenregierung. Auf Expert_innen wird immer zurückgegriffen, wenn es eine Krise bei der Rekrutierung von Politiker_innen gibt. Das war beim Kollaps der türkis-blauen Regierung der Fall, und man sieht es nun mit der Selbstdemontage von Kochers Amtsvorgängerin Christine Aschbacher.
Mit der Bestellung Kochers will man suggerieren: «Wir haben das Problem im Griff. Wir haben die Person, um das Problem zu lösen.» Es ist eine Form des Krisenmanagements. Außerdem möchte Bundeskanzler Sebastian Kurz so der sich entwickelnden Krise der Arbeitsmarktpolitik begegnen. Die Arbeitslosenzahlen werden aufgrund der Pandemie in die Höhe schnellen. Der Experte soll helfen. Kurz will zeigen: «Wir können diese gesellschaftliche und soziale Krise lösen.»
Es gibt auch eine latente Personalkrise der Politik. Politiker_innen sind ja meistens keine Expert_innen, wenn sie ihr Amt antreten. Expertise eignen sie sich erst an, wenn sie längere Zeit in einem Amt bleiben. Wer kriegt denn in der Regel die Ministerposten? Es sind Parteifreund_innen, deren Loyalität dem Kanzler gegenüber erwiesen ist.

Gerne wird an dieser Stelle behauptet, dass Expert_innen besser seien, weil sie nicht in diesem Filz stecken und deshalb «neutrale» Politik betreiben können.
Das ist eine wichtige Frage: Sind diese Expert_innen so objektive und neutrale Personen, wie immer behauptet wird? Selbst Martin Kocher hat in einem Interview betont, dass er nicht neutral ist und politische Standpunkte vertritt.

Zum Beispiel wünscht er ein höheres Antrittsalter bei den Pensionen, er ist gegen die Erbschaftssteuer und hat sich in der Vergangenheit positiv auf die in Deutschland umstrittenen Hartz-IV-Gesetze bezogen.
Genau. Auch Wissenschaftler_innen sind keineswegs neutral und objektiv. Bildungsminister Heinz Faßmann ist auch so ein Beispiel. Er ist parteilos, kommt aus der Wissenschaft, war Vizerektor der Universität Wien. Er war als Minister Befürworter der sogenannten Deutschförderklassen, die schon vor ihrer Einführung von vielen kritisiert wurden. Als er in den Volksschulen die Ziffernnoten wieder eingeführt hat und dies als wissenschaftlich unbegründet kritisiert wurde, erwiderte Faßmann: «Nicht hinter jeder politischen Entscheidung gibt es auch eine wissenschaftliche Fundierung.»

Und doch werden Expert_innen immer stärker als Garant_innen für richtige politische Entscheidungen wahrgenommen. Durch die Covid-19-Krise hat sich ihre mediale Präsenz ja noch einmal verschärft.
Das stimmt, manche Virolog_innen und Immunolog_innen haben im Verlauf der Covid-19-Krise Kultstatus bekommen. Was sie sagen, wird geglaubt. Dieses Phänomen ist ein Hinweis auf eine verunsichernde Situation. Es gibt zu wenig Wissen über das Virus. Das Bedürfnis ist groß, möglichst umfassendes Wissen zu bekommen. Wissenschaftler_innen werden von den politischen Akteur_innen vorgeschoben, um Sicherheit zu geben. Allerdings gibt es auch unter den Wissenschaftler_innen Uneinigkeit darüber, was gesichertes Wissen ist. Manche ändern im Lauf der Zeit ihre Meinung. Ein Beispiel ist Schweden, wo man zunächst auf Herdenimmunität setzte und dann aber doch einen Lockdown einführte.
Es gibt aber ohne Zweifel einen Bedarf an Wissen, teilweise ein Klammern an scheinbar objektives Wissen. Ein Beispiel dafür ist Donald Trump. Weil der so viele Fake News verbreitete, wurden Wissenschaftsmärsche organisiert. Dort haben Wissenschaftler_innen gefordert, fälschlicherweise meiner Meinung nach, dass wir auf «Hard Facts» versus «Fake News» setzen müssen. Dabei gibt es eben keine objektive «harte» Wissenschaft.

Wenn die Expert_innen immer stärker im Rampenlicht stehen, was passiert mit den Parteien? Traditionell hat man in Österreich die ÖVP als Partei des katholischen Bürgertums und die Sozialdemokratie als Vertreterin der Arbeiter_innenbewegung. Wie passen da die «neutralen Expert_innen» ins Bild?
Hier gibt es eine Entwicklung, die schon in den 1970er-Jahren eingesetzt hat. Volksparteien, die eigentlich unterschiedliche Spaltungen in der Gesellschaft bedienen, haben versucht, auf die Mitte der Gesellschaft zu zielen. Sie wollten nun die gesamte Gesellschaft bedienen beziehungsweise Wähler_innen aus allen gesellschaftlichen Gruppen gewinnen. Die Überlegung, dass die Gruppe der Arbeiter_innen keine eigenen Interessen mehr entwickelt, hat sich aber als falsch herausgestellt. Seit den 1990er-Jahren ist die Arm-Reich-Spaltung in der Gesellschaft viel stärker geworden. Diesen Schwenk haben die Arbeiter_innenparteien nicht wahrgenommen. Deshalb werden große Bevölkerungsteile nicht mehr erreicht. Durch die Orientierung auf die Mitte verloren die traditionellen Parteien an Einfluss und Wähler_innen. Davon konnten vor allem die rechten Parteien profitieren. Schlecht ausgebildete, vor allem junge Männer mit niedrigem Einkommen haben zunehmend rechts gewählt. Die Hinzuziehung von Expert_innen ist ein Versuch der etablierten Parteien, den Verlust an Wähler_innenschaft durch eine sekundäre Legitimation wiederherzustellen. Meine Vermutung ist aber, dass das nicht funktioniert.

Das hat ja der Wiener Bürgermeister Michael Ludwig vor einiger Zeit thematisiert. Er hat die Frage aufgeworfen, wieso sich SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner trotz ihrer fachlichen Kompetenz als Epidemie- und Infektions­expertin nicht in der Covid-19-Pandemie profilieren kann.
Es ist schon interessant, dass die SPÖ Pamela Rendi-Wagner nicht wirklich als Expertin nach vorne schickt. Neutrale Expertin und Parteichefin gleichzeitig funktioniert scheinbar nicht. Da bräuchte es einen Push von der Partei, doch da fehlt die Unterstützung.

Womit wir wieder beim Bild der Neu­tralität sind. Ist das nicht eine sehr neoliberale Sichtweise, wenn man zum Beispiel sagt: Wirtschaft ist objektiv und neutral, da kann man sich politisch nicht einmischen?
Laut neoliberaler Ideologie soll die Wirtschaft, soll der Markt ohne staatlichen Eingriff funktionieren. Die Ökonomien sind in den vergangenen Jahrzehnten finanzialisiert worden. 2008 sind sie dann zusammengekracht. Da zeigte sich, dass das neoklassische Modell, auf dem der Neoliberalismus basiert, nicht funktioniert. Neoliberale Analysen können die reale Wirtschaft nicht abbilden. Auch Marktwirtschaften sind soziale Gebilde und immer staatlich gesteuert. Sowohl auf Seiten der Arbeitnehmer_innen als auch der Arbeitgeber_innen haben wir es mit Menschen zu tun.
Wenn jetzt der Arbeitsminister in Folge der Covid-19-Pandemie ernsthaft daran interessiert ist, die Menschen wieder in Arbeit zu bringen, muss staatlich interveniert und reguliert werden. Man muss Arbeitszeit umschichten, den Pflegesektor ganz anders organisieren. Auch über Verstaatlichungen muss wieder konkret nachgedacht werden.

Das wäre ein drastischer Politikwechsel. Was bräuchte es dafür?
Vielleicht ganz andere Expert_innen? Es gibt ja welche, zum Beispiel bei der Arbeiterkammer. Doch die kommen nicht zum Zuge. Es bräuchte viel mehr Sozialpolitik, die soziale Ungleichheit beseitigt. Es bräuchte eine ganz andere Steuerpolitik, um mehr Geld für eine sozial ausgleichende Politik zu haben. Kurzum: Es bräuchte eine sozial und demokratisch orientierte Wirtschaftspolitik. 

Birgit Sauer ist Co-Leiterin der Forschungsgruppe
Critical State, Governance and Globalization Studies am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien.

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