Hilfe in jeder Nottun & lassen

Ein Teil vom Team Soziale Arbeit beim Augustin. Im Bild: Henrie, Matthias, Milica, Sylvia (Foto: © Mario Lang)

Das Augustin-Team versorgt Verkäufer:innen nicht nur mit Zeitungen, sondern auch mit hochwertiger Sozialarbeit. Von der Begleitung zum AMS über das Schließen von Zahn- und Versicherungslücken ist alles drin. Ein Blick hinter die Kulissen in der Augustin-Zentrale.

«Sie sind einfach die ­Besten!», schwärmt Francis und gesti­kuliert begeistert. «Sie ­haben mir einen Termin beim Zahnarzt organisiert!» Der Mann trägt eine schwarze Augustin-Weste über ­seinem weißen Kapuzenpulli. Er nimmt die ­Sonnenbrille ab und grinst unter der ­grauen Kappe hervor. Eine ­dicke Zahnlücke prangt in der Mitte seines ­
Mundes. Vor einem Monat habe er sich zwei ­Zähne ausgebrochen. «In ­Nigeria öffnen viele die Flaschen mit ihren Zähnen», lacht er ­verlegen. Ihm fehle aber die Versicherung, um zum Arzt zu ­gehen, und das, obwohl er seit bald ­zwanzig ­Jahren in Österreich lebt. Er sei nie krank, aber diesmal habe er Unterstützung ­gebraucht. Und prompt bekommen – von den Sozialar­beiter:innen des ­Augustin. ­Francis winkt grinsend mit einem ­kleinen Zettel, der Datum und Adresse seines bevorstehenden Arzttermins dokumentiert. «Ich bin glücklich», strahlt er.
Die Zahnlücke des Zeitungsverkäufers Francis ist nur eine von vielen ­Baustellen, die das Team für Sozialarbeit beim ­Augustin zu bearbeiten hat. ­Dutzende Menschen kommen jeden Monat zu ­ihnen, wenn sie Fragen zu ihrem Aufenthalt, Probleme an ihrem Zeitungsverkaufsort oder andere Sorgen haben. ­Heute stehen sechs Sozialarbeiter:innen für die Zeitungsverkäufer:innen bereit. Anders als die meisten ­Beratungsstellen und Hilfseinrichtungen ist die ­Sozialarbeit beim Augustin offen für alle, ­unabhängig vom Aufenthaltsstatus. Darüber ­hinaus gilt beim Augustin: Es gibt keine Chef:innen.

Offene Ohren

Dafür haben die Sozialarbeiter:innen selbst viel Erfahrung. Milica Martinović etwa, sie arbeitete jahrelang bei Liceulice, der bedeutendsten Straßenzeitung Serbiens. «Als ich dort vor drei Jahren aufgehört habe, hatten wir etwas über hundert Verkäufer:innen in Belgrad, vierzig weitere in Novi Sad.» In Wien sind über 400 Menschen für den Augustin-Straßenverkauf registriert. Dementsprechend viele Anfragen gibt es. «Die Leute kommen zu uns, wenn sie was vom AMS brauchen, Fragen zu ihrem Deutschkurs haben oder wegen Polizeistrafen. Die größte Hürde aber ist die Sprache.» Um diese Hürde abzubauen, gibt es mittlerweile auch Unterstützung auf Deutsch, Englisch, Bulgarisch, Rumänisch, Ungarisch und BKS, der Erstsprache von Milica Martinović. «Das Schönste ist, es macht für die ­Leute tatsächlich einen Unterschied, was wir hier machen. Das sieht man direkt.» Für Martinović ist die Beziehungsarbeit mit den Verkäufer:innen ihre wichtigste Aufgabe. An drei Tagen die Woche ist ihr Team vor Ort, im Augustin-Headquarter in der Reinprechtsdorfer Straße im fünften Bezirk. Auch an diesem Montag Ende Februar kommen laufend Leute, die Zeitungen abholen oder einen Computer benützen wollen, oder Menschen, die einfach ein offenes Ohr suchen.
Genau dieses scheint auch ein aufge­brachter Passant zu brauchen, den Sozial­arbeiter Alex Bumbar am Telefon hat. Bumbar sitzt im Aufenthaltsraum, im ­Augustin-Jargon: «im Vertrieb», hinter einer Art Empfangstisch. Hier werden die Zeitungen ausgegeben. Am Tisch stapeln sich Kalender, Schnapskarten-Sets und Gustl-Comics, alles, was Verkäufer:innen im Angebot haben. Die Zeitung selbst ist heute schon ausverkauft. Erst tags ­darauf wird die nächste Ausgabe ­geliefert. An der Wand kleben vergangene ­Augustin-Covers, am Tisch gegenüber gibt es Lebens­mittelspenden von der Wiener Tafel. Ein älterer Herr stopft sich gerade eine Jackentasche mit gespendeten Schoko­pralinen voll. «Ja, ist in Ordnung, o. k.,» spricht Bumbar ins Telefon. «Passt, werde ich weitergeben.» Er legt auf. Im ersten Bezirk würden zwei Leute ohne sichtbaren Augustin-Ausweis Zeitungen verkaufen und «alten Leuten auf die Nerven gehen», so der Anrufer. Er habe bereits die Polizei gerufen, fasst Alex Bumbar das Gehörte zusammen. «Manche Leute erhoffen sich beinahe, dass wir zu Razzien ausrücken.» Wenn es Konflikte unter Verkäufer:innen gäbe, dann schaue ein Kollege am Verkaufsplatz vorbei. Außerdem nehmen die Sozialarbeiter:innen oft Kontakt zu Super­märkten oder den Wiener Linien auf, wenn es Unklarheiten an Verkaufsstellen gibt. Und immer wieder kommen Beschwerden rein, die Alex Bumbar und seine Kolleg:innen zu managen haben.

Ohne Chef:in

Um Existenzielleres geht es bei dem Herrn, der schon seit einer Viertelstunde am anderen Ende des Raums geschäftig telefoniert. «Ich brauche ein neues Haus», erklärt er den zwei Sozialarbeiter:innen, nachdem er sein Tele­fonat beendet hat. Beeindruckend gelassen erzählt der Mann im dunklen Sakko, er müsse Ende des Monats seine Wohnung verlassen. Das bedeutet schon in vier Tagen! Die Sozialarbeiter:innen vermitteln ihn an «das P7», das Wiener Service für Wohnungslose der Caritas. «Leider hören wir solche Geschichten immer wieder. Mit einem ähnlichen Zeitfenster», berichtet Sebastian Reiner. Er studiert Soziale Arbeit und macht aktuell ein Praktikum beim Augustin.
Und tatsächlich sind es wiederkehrende Themen, welche die Leute in die Sozialberatung treiben: «Wohnungssicherung, Mietrückstände und natürlich Schulden», weiß Sylvia Galosi. Sie ist aus dem deutschen Freiburg nach Wien gezogen und hat 2020 beim Augustin angefangen. Die Inflation und der zunehmende Armutsdruck kommen auch bei ihr in der Beratung an. Sehr von Vorteil sei, dass sich der Augustin ausschließlich über Zeitungsverkauf und Spenden ­finanziere, erzählt sie. Den meisten NGOs würden Fördergeber Beschränkungen auferlegen, wen sie beraten dürften – und wen nicht. «Für manche sind wir die ­einzige Anlaufstelle. Da sind wir tatsächlich sehr niederschwellig, das gefällt mir», sagt Galosi. Genauso gefällt der Sozialarbeiterin das Arbeiten ohne Chef:in. «Wir organisieren alles unter uns selbst. Das braucht viel Teamzeit, um Entscheidungen zu treffen und den Arbeitsplatz zu strukturieren.» So würde die Verantwortung auf viele Schultern verteilt. Auch ihre Kollegin ist zufrieden, sich nicht mit Vorgesetzten herumschlagen zu müssen. «Tatsächlich sind wir nicht nur basisdemokratisch organisiert, sondern auch Arbeitnehmer:innen und unsere eigenen Arbeitgeber:innen in Personalunion,» erklärt Sonja Hopfgartner. «Ich glaube, das ist in diesem Bereich einzigartig.» Hopfgartner ist die Dienstälteste im Team. 2008 hat sie von der Drogenberatung «Ganslwirt» zum Augustin gewechselt und die Sozialarbeit mitaufgebaut. In ihren 16 Jahren beim Augustin hat sich einiges gewandelt. So etwa die Zusammensetzung der Verkäufer:innen. «Früher gab es mehr Deutschsprachige und mehr Leute aus Nigeria. Heute sind zwei Drittel der Leute aus Rumänien.» Nicht geändert hat sich das Motiv der Leute, eine Straßenzeitung zu verkaufen: ihre Armutsbetroffenheit. «Heute sind wir im Sozialarbeitsteam aber besser aufgestellt. Dementsprechend kommen auch mehr Anfragen», so Hopfgartner. «Armut ist ein Fass ohne Boden», beschreibt es Sylvia Galosi. Irgendwer brauche ­immer etwas.

Wohnung, Arbeit, Bleiberecht

Doch manchmal können auch die Sozial­arbeiter:innen wenig ­ausrichten. So etwa im Sommer letzten Jahres: ­Abuchi, ein beliebter Augustin-Verkäufer aus Favoriten, wurde in Schubhaft genommen und schließlich nach ­Nigeria abgeschoben. «Das ist sehr schlimm, wenn so etwas passiert», sagt Sylvia ­Galosi. «Oft bekommen wir erst ­davon mit, wenn es fast zu spät ist.» ­Obwohl mehrere Kolleg:innen gemeinsam mit einer großen Unterstützungsgruppe und vielen Spender:innen, die die anwaltliche Begleitung finanzierten, für ­Abuchis Aufenthaltsrecht kämpften, war die Abschiebung nicht zu verhindern. Manchmal würden Verkäufer:innen auch einfach verschwinden, sagt ­Galosi: «Das macht dann schon ein Stück weit machtlos.»
An ihre Grenzen stoßen die Sozial­arbeiter:innen auch bei Francis’ zweitem Begehr. Mit der Lösung für seine Zahnlücke ist er sehr zufrieden. Beim zweiten Thema aber redet sich der Mann in Rage: «Ich will eine Arbeits­erlaubnis!» Er habe einen Sohn, er könne nicht länger seine Lebenskosten ausschließlich vom Zeitungsverkauf bestreiten. Er wird immer lauter. «Ich bin gesund und stark, ich will endlich arbeiten!» Berechtigter Frust, den ihm selbst die Sozialarbeiter:innen nicht nehmen können. Die ­restriktive Gesetzeslage können auch sie nicht ­ändern. Auch «ein neues Haus» für den telefonierenden Augustin-Verkäufer im Vertrieb ist auf die Schnelle wohl kaum zu organisieren. Wo sie aber können, da helfen die Sozialarbeiter:innen. Es ist die Vielfalt an Themen in ihrer Arbeit, die Sonja Hopfgartner so schätzt. Ihre Kollegin Sylvia Galosi mag es besonders, «mit den unterschiedlichen Charakteren in Kontakt zu kommen».
Charaktere wie Francis etwa. Nachdem er seiner Wut über die unfaire Rechtslage in Österreich Luft gemacht hat, ist er wieder guter Dinge. Ohne ­große Verabschiedung verlässt der Mann die Augustin-Zentrale in der Reinprechtsdorfer Straße. Einmal noch blickt er über seine Schulter zurück und grinst in die Runde der Anwesenden. Läuft alles nach Plan, dann grinst Francis heute das letzte Mal mit Zahnlücke in der Augustin-Sozial­beratung.