Hinrichtung? Okay!Dichter Innenteil

Reise-Essay

#1 Wenn irgendwo irgendwas passiert, bei dem Menschen sterben, mache ich mir zuallererst Sorgen um mich. Tschernobyl: Was wird aus mir? Fukushima: Was wird aus mir? Paris, Istanbul, Brüssel: Mir, mir, mir! Das ist nicht nobel, aber gesund. Ich weiß nicht, ob ich eine Mutter wäre, die für ihre Kinder sterben würde. Wahrscheinlich nicht.#2 I am okay with them executed, sagt eine Stimme in meinem Rücken in einem aufgelassenen Dubliner Gefängnis, das ich mit meinem Bruder besichtige. Dark tourism: Orte des Schreckens auf dem Sightseeing-Plan (Gefängnisse, Konzentrationslager, in Zukunft auch Zäune, die aus dem Boden geschossen werden). Und danach Mittagessen, weil: Wir sterben vor Hunger. Einmal, 1999, rief ich, Sekretärin, in einem Hotel in Venedig an. Der Auftrag: Einem Kunden auf Kosten des Büros ein Hotelzimmer buchen. And why are you paying?, wollte das Hotel wissen. Ich überlegte, legte mir die englische Vokabel für Geschenk auf die Zunge, presste die Vokabel durch die Löcher des Telefonhörers in Richtung Lagune: It should be a – prison?

#3 Prison oder present hin oder her, für mich voll okay, dass sie hingerichtet werden, das verstehe ich. Nicht. Außer die Frau zur Stimme versteht darunter die Korrektur der Ungleichbehandlung, wie sie die Countess Markievicz, eine Revolutionärin des irischen Osteraufstandes gegen Großbritannien, 1916 einforderte: Während ihre Mitstreiter hingerichtet wurden, wurde sie, die Frau, wegen des prisoner’s sex begnadigt. Sie forderte Gleichbehandlung ein: I do wish your lot had the decency to shoot me.

#4 Der jüngste Inhaftierte in der Geschichte des Gefängnisses war ein Krimineller von fünf Jahren. Blaukraut ist Blaukraut und Brotdieb ist Brotdieb. Noch über hundert Jahre später wird daran erinnert werden müssen, dass die Errungenschaft der Mindestsicherung, die die ärmsten 3 % der österreichischen Bevölkerung beanspruchen, ohnehin bloß ein Minimum sichert, und dass ein Minimum, das bereits unter der Armutsgrenze liegt, nicht noch mehr vermindert werden kann.

#5 Während der Kartoffelfäule, 1845 bis 1852, verhungerten 12 % der irischen Bevölkerung, eine Million Menschen. Zwei Millionen wanderten aus. Wir alle haben eine Meinung zu ihnen, den Wirtschaftsflüchtlingen. Eine Vielzahl derer, die im Land blieben, begingen ein Verbrechen, um bei Wasser und Brot zu überleben. Wie auch in Spanien oder Portugal während der jüngsten Wirtschaftskrise. Es wiederholt sich alles, irgendwann, für irgendwen.

#6 Als mein Bruder und ich gefragt werden, ob wir sie zum Essen einladen, gibt er der Frau mit dem Vogelschiss auf der Trainingsjacke alle Münzen, die er hat, vier Euro. Nie würde mein Bruder Lassen Sie mich doch in Ruhe mit Ihrer Trostlosigkeit sagen, oder verbale Hinrichtungen ähnlicher Art. Wenn mein Bruder in der Nacht über die Brücken des River Liffey spazieren geht, versichert er sich im Hotelzimmer, genügend Geld dabeizuhaben.

#7 Ich weiß nicht, wie es ist, auf einer Brücke zu wohnen. Ich weiß aber, dass es – unter Umständen – jeden treffen kann und jede. Auch wenn der fieberhafte Glaube an die konsequente Abwendung des Grauens für immer, für alle, mich, beruhigt. Ich schlussfolgere: Auf der Brücke schlafen = mehr Mitleid = mehr Geld. Erst Tage danach denke ich weiter: Mehr Geld = für manche noch nicht mal ein Mindestens. Und: Weniger dunkle Hausecke = mehr frequentierte Brücke = mehr Schutz vor hate crime.

#8 I went by plane. Ich ging per Flugzeug. Dieses In-den-Himmel-Hinaufschießen, diese Luftlöcher, diese lächerliche Schwimmweste, dieses vollkommene Ausgeliefertsein bis zur Landung. Anstatt meine Reisefreiheit voll Demut zu erleben, tröpfle ich mich mit Diazepam weg. Den lebensgefährlichen Land- und Wasserweg mittels Schleppern sollen andere. Die EU-Richtlinie, welche die Haftung der Fluggesellschaft gegen mein Überleben ausspielt, gilt für mich nicht. Will ich wohin, darf ich fliegen.

#9 Auf dem Kopf meines Bruders zieht der Haarausfall einen immer größeren Kreis. Ein schütterer Haarkranz wie die Baumgrenze der Gebirgslandschaft, in der wir aufgewachsen sind. Die Frau mit dem Vogelschiss auf der Trainingsjacke trägt ihr Haar voll, aber schmalzig. Sie würde es brauchen, wieder mal zum Essen eingeladen zu werden, wir fürchten uns. In Großstädten ist es Mode geworden, dass immer mehr Menschen in Altersarmut anonym versterben. Manchmal fragen sie auf der Straße jemanden nach ein paar Münzen für die Rezeptgebühr. In der restlichen Zeit werden sie schmaler, schmächtiger, bis sie irgendwann gar nicht mehr zu sehen sind, zum Glück.

#10 Mein Bruder, der die Hinrichtung der Frau nicht mitansehen kann, hebt seine Arme. What the fuck, denke ich, der wird sie doch nicht? Dazu ist zu sagen: A) Umarmungen können wir nicht. Und B) Umarmungen für Unbekannte, für Bettler_innen, das macht man doch nicht. Wir sind, schreibt Arno Geiger, lauter Geflickte. Doch das Zusammenflicken der Frau funktioniert nicht. Im Hotelzimmer stehen wir vor dem Spiegel, zu viert, mein Bruder und ich. Studien sagen, sage ich zu mir, Glatzen stehen für Kraft und Macht. Mein Bruder sieht sich an und sagt: Für mich gilt das wohl nicht.