Sicherheit gleicht dem Pudding, den man an die Wand nageln will.
«Die Leute, die im Knast sitzen, sind zu 80 Prozent arme Schweine.» Martin Schenk im Augustin-TV-Gespräch mit Reinhard Kreissl, dem Leiter des Instituts für Rechts- und Kriminalsoziologie Wien, über das inszenierte Sicherheitstheater, über Alternativen zur Gefängnisstrafe und über die Notwendigkeit, die Drogenpolitik zu ändern.
Martin Schenk:
Hardware, Software und Wetware: Hinter diesen Begriffen verstecken sich bestimmte Sicherheits-, eigentlich Angst- oder Risiko-Tools.
Reinhard Kreissl:
Hardware, Software ist klar. Wetware ist der Mensch, das analoge biologische Wesen. Wenn Sie sich heute Sicherheit anschauen, gilt die Regel: Technik ist die Antwort. Aber was war die Frage? – Es gibt Videokameras und Sensoren. Man implantiert Chips, man versucht, Überwachungstechnologien einzurichten, und hofft damit, irgendwas in den Griff zu kriegen. Hinter jeder Ecke lauert das Risiko. Die Sicherheitsindustrie ist der einzige Sektor, der europaweit noch zweistellige Zuwachsraten hat.
Trotz und mit Krise?
Wegen Krise. Und wenn man sich dieses Wachstum anschaut und die Verbreitung von unterschiedlichsten Technologien, dann denkt man: Mein Gott! Es müsste eigentlich immer gefährlicher werden! Wir sind umgeben von immer mehr und anfälligeren Sicherheitstechnologien. Ein Flugticket Wien-Berlin kostet, sagen wir, 200 Euro. Der Flugpreis 80 Euro, 120 Euro Taxe (Gebühren, Anmerkung), davon wiederum können Sie 50, 60 Euro für Sicherheit rechnen. Ein Riesengeschäft, wenn man sich anschaut, wie viele Scanner da rumstehen, wie viel Personal da eingesetzt wird. Und für diese Sicherheitsinszenierung gibt es einen Ausdruck: «secury theatre», Sicherheitstheater, eine unglaubliche Wachstumsbranche. Das suggeriert zweierlei: (1.) Das Leben ist gefährlich. Und (2.) wir tun was dafür! Eine kulturelle Grundstimmung, die nach 9/11 Konjunktur aufgenommen hat, die unvermindert anhält.
Macht das die Welt sicherer. Und was ist überhaupt Sicherheit?
Sicherheit ist der berühmte Pudding, den man an die Wand nageln will. Wir können mit Zahlen operieren: Noch nie war die Welt gewaltloser, die Gesellschaft zivilisierter als heute. Die Anzahl der Gewalttaten pro Hunderttausend in der Bevölkerung ist zurückgegangen. Dass Sicherheit zum Thema wird, hat eher zu tun mit der Veränderung in der Gesellschaft. Die Leute fangen an, Dinge die ihnen trivial normal erschienen sind, zu hinterfragen. Über frühere Gesellschaften brachen Dinge wie Naturgewalten herein. Moderne Gesellschaften wie unsere suchen nach Ursachen. Und je mehr Forschung wir betreiben, umso mehr Anhaltspunkte sind zu finden. Niklas Luhmann lieferte die Definition: Risiko heißt, wir betrachten unsere heutigen Entscheidungen unter dem Gesichtspunkt möglicher Schäden, die sie morgen haben könnten.
Der Preis der Freiheit? Eine starke Diskussion gibt es in der Gesundheitsbranche im Bereich der Prävention, die auch unter dem Titel des Risikos geführt wird. Ob eine jetzige Handlung irgendwas mit meinem späteren Tod zu tun hat: Lebensstil, Ernährung?
Gesundheit und Krankheit verhalten sich wie Sicherheit und Risiko. Gesundheit ist ein Leerbegriff. Gesundheit ist immer nur da, als ein nicht zu erreichender Zustand: Wir müssen immer fit sein, immer in Bewegung – und ob das unter dem Strich das Leben verlängert, ist alles andere als klar. Jede Woche kommen neue Untersuchungen. Dabei geht es gar nicht so sehr um die Facts, die Objektivität, sondern eher um die Frage, wie wir als Mensch unser Leben sehen: Was soll ich tun? Das sind Fragen, die sich für Menschen des 19. Jahrhunderts nicht gestellt haben. Und die Optionen werden immer mehr. Das Gerede von der Multioptionsgesellschaft geht nach hinten los, bei der großen Auswahl. Damit werden die Dinge unsicher. Und das geht vom klassischen Bereich Kriminalität über Sicherheit zur Lebensplanung und Gesundheit.
Drogenproblem ist ein Gesundheitsproblem, kein Kriminalitätsproblem.
Sie beschreiben in Ihrem Text: Die Warnschilder und -ratgeber werden immer mehr, die Warnhinweise nehmen zu.
Wenn Sie heute verantwortlich sind, sind Sie konfrontiert mit einem Zurechnungsproblem. Wenn ich sage: Ich habe dich gewarnt, bin ich aus dem Schneider – das ist der Deal. Nachher ist man immer schlauer. Der Vorwurf an die Dienste ist immer da: Warum habt ihr uns nicht gewarnt? – Und so beginnt man präventiv zu warnen, dann haben die anderen die Arschkarte. Seit Jahren werden zwei-, dreistellige Millionenbeträge ausgegeben, um auf Videoaufnahmen unkooperatives Verhalten zu entdecken. Klassischer Anwendungsfall: U-Bahn, Bahnsteig. Auch in Wien. Gehen Sie zur U-Bahn runter, oben im Häuschen sitzt einer vor 20 Schirmen. Der liest Zeitung, kann das gar nicht alles überschauen. Jetzt ist die Idee: Machen wir ein automatisches Auswertungsprogramm, das eine Warnung abgibt. Und jetzt versuchen Sie mal anhand von Videoaufzeichnungen rauszufinden: Wer ist verdächtig? Auch die Recognition-Software, das Erkennungssystem, schafft es nicht. Einer wartet, lässt 2 Züge durchfahren, schaut auf die Uhr, wird ganz nervös, ist verdächtig … Dabei wartet der auf sein Schatzi. Der Killer für solche Programme sind Kinder, die herumrennen.
Hier sind wir bei der Science-Fiction. Im Film gibt es Verbrechen in der Zukunft, die schon vorher zu erkennen und somit zu verhindern sind …
Das ist gar nicht so Science-Fiction. Da gibt es die neue Strategie namens Intelligence-led policing: Ich nehme Daten aus der Vergangenheit und extrapoliere sie, zB. Los Angeles. Wenn ich Location-Tracking verfolge, bemerke ich plötzlich 10 Mobiltelefone der Bande A und im benachbarten Gebiet mehrere Handydaten der Bande B. Das krieg ich auf den Schirm gespielt, so was kann auch ein Algorithmus machen. Es ist eine Massierung von problematischen Figuren. Dann schicke ich einen Streifenwagen hin und versuche etwas zu verhindern. Solche Ereignisse vorherzusagen – da wird viel Geld ausgegeben, um das zu erforschen.
Eine Strategie, über die sehr viel Positives zu lesen ist, nennt sich Zero Tolerance.
New York hatte eine ziemlich lasche, korrupte, schlecht organisierte Polizei. Dann kam ein neuer Polizeichef, der installierte auf District-Ebene ein neues System, um die Leute in die Pflicht zu nehmen. Es gab Vorgaben: so viele von denen einsperren usw. Das lief eine Zeit lang ganz gut. Dann kippte es. Die Leute begannen sich zu beschweren über Polizeibrutalität, dass Leute, die ins Eck pinkelten, mit Handschellen abgeführt wurden. Man kann den «Erfolg» von Zero Tolerance (Nulltoleranz, Anm.) als organisatorisches Artefakt, als Nebeneffekt veränderter Strukturen und als Verdrängung von der Straße bezeichnen. Wenn ich einen einsperre, ist der weg. Es gibt diese Intensivtäter-These: 20 Prozent begehen 80 Prozent der Verbrechen. Wenn ich die rauspicke, habe ich einen hohen Effekt in der Statistik. Da gibt es entsprechende Intensivtäter-Programme, um die zu identifizieren – was rechtsstaatlich hochproblematisch ist, aber die USA sehen das nicht so eng. Die haben die aus dem Verkehr gezogen, mit hohen Strafen belegt und damit die Statistik nach unten gedrückt. Das führt mittelfristig zu folgendem Problem: Die stecken vorne immer mehr Leute rein, und hinten kommen keine mehr raus.
Das System wächst und wächst. Und das führt zu immer mehr Gefängnissen …
Was jetzt dazu führt, dass in Kalifornien die Leute wieder freigelassen werden.
Weil es keinen Platz mehr gibt oder kein Geld vorhanden ist?
Weil es nicht mehr zu bezahlen ist, das ist dermaßen teuer geworden. Und jetzt können sie die nächste Kriminalitätswelle prognostizieren. Leute, die kaum eine Perspektive, keine Ausbildung, keine Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben, einer ethnischen Minderheit angehören, lasse ich mal 10 Jahre im Gefängnis: Sie werden aggressiv, HIV-positiv, drogensüchtig, wenn sie es nicht schon vorher waren: Keine Chance! Das baut sich da drinnen auf. Und jetzt lasse ich die hinten wieder raus. Da können sie die Uhr danach stellen, wann die wieder straffällig werden und sie die nächste Kriminalitätswelle haben. Das Gefängnis hat noch niemand vom Verbrechen abgehalten.
In Österreich hat’s Reformversuche gegeben mit früheren Entlassungen. Wie steht Österreich im internationalen Vergleich da? Und wie sehen die Tendenzen mit der Politik der Strafen aus?
Strafen sind eine symbolische Geschichte. Man bestraft immer nur exemplarisch – die, die man erwischt. Es gibt Alternativen wie Fußfessel, Diversion, Täter-Opfer-Ausgleich etc. Wenn man sich Österreich im Lauf der letzten zehn, fünfzehn Jahren ansieht und die Zusammensetzung der Gefängnispopulation. Die Anzahl der Österreicher geht runter. Man könnte ein oder zwei Strafanstalten zusperren. Geht nicht von heute auf morgen. Also wird aufgefüllt mit Ausländern. Und als Migrant kann man Straftaten begehen, die man als Österreicher nicht begehen kann. Das ergibt eine völlig neue Zusammensetzung auf hohem Niveau der Überlastung. Und bei aller Sonntagsrhetorik: Im Gefängnis wird nicht resozialisiert. Politik wird auch mit Randgruppen gemacht. Und die Politik hat nicht die Eier, dagegen anzustehen. Stattdessen herrscht die Mentalität vor: Wo ist der Feind? Wen können wir bestrafen? Die Leute, die im Knast sitzen, sind zu 80 Prozent arme Schweine. Die ganzen Drogenleute gehören da nicht rein. Drogenproblem ist ein Gesundheitsproblem, kein Kriminalitätsproblem. Und es geschieht gegen besseres Wissen und Gewissen. Es wird momentan punitive, also straforientierte Politik gemacht.
INFO:
Internet: www.irks.at
Zum Nachsehen: http://okto.tv/eingschenkt