Hoch lebe der Tabak & die PoesieArtistin

Ein «Anachronist» verließ uns: Walter Wippersberg (1945–2016)

Der Bühnenbildner, Theaterregisseur, Filmemacher, Aktivist, Fotokünstler, Schriftsteller und Literaturzeitungsherausgeber Walter Wippersberg «war ein Liberaler im eigentlichen Sinn des Wortes: ungebunden, freimütig, zügellos», schrieb Hannes Hofbauer, einer seiner Verleger, ein paar Tage nach Wippersbergs Tod. Robert Sommer tippt: Walter Wippersberg sitzt kettenrauchend im Hendl-Himmel, umgeben von ebenso tschickenden Kükenengerln, die den Vogeltanz tanzen.

Hühnerkeulen essende, massenhaft Bier trinkende und den Vogeltanz ausübende oberösterreichische Eingeborene überzeugen ein afrikanisches Ethnologenteam, dass in diesem Landstrich zwischen Alpen und Böhmerwald eine seltsame, archaische Religion gepflegt wird: die Anbetung des Heiligen Hendls. Die Kirchen dieser Konfession sind die Bierzelte. Der 1992 gedrehte groteske Dokumentationsfilm, der die Verhältnisse zwischen Forschern und Erforschten umdreht, heißt «Fest des Huhnes» und bescherte Wippersberg ein Renommee, das er selbst gefährdete, als er 18 Jahre später der hegemonial gewordenen Antiraucherlobby sein Buch zur Kulturgeschichte des Rauchverbots entgegenhielt. Ich weiß nicht, von wem die Idee stammt, Zigarettenpackungen mit der Aufschrift «Es ist verboten zu verbieten» zu zieren; Wippersberg hätte diese Rache der Raucher_innen sehr gefallen.  

Was sein Ziel betraf, nämlich die Überreglementierung des menschlichen Alltags überhaupt in Frage zu stellen, war er freilich nicht sehr zuversichtlich. «Die militanten Antiraucher haben in der dritten großen Angriffswelle gesiegt», analysierte er. «Aber sie sind nicht zufrieden damit. Längst geht es nicht mehr um Nichtraucherschutz, sondern um ein Totalverbot des Rauchens, um den Endsieg.»

Ab dem Moment, wo Wippersberg die Verursacher der Tabak-Prohibition nannte, mussten sich die Antiraucher_innen provoziert fühlen, denn der Autor bescheinigte ihnen, einerseits Nachbeter_innen amerikanischer Interessen zu sein, andrerseits sich den Positionen der Nazis, das Tabak-Bashing betreffend, angenähert zu haben. 

Die drei Wellen gegen die Freiheit der Raucher 

Eine Galionsfigur der ersten Angriffswelle war die evangelikale Methodistin Lucy Page Gaston. Sie und ihre Mitstreiterinnen brachten es immerhin zuwege, dass es in den Jahren 1893 bis 1921 in insgesamt vierzehn Bundesstaaten der USA zu strikten Rauchverboten kam. Gastons «National Anti-Cigarette League» gab bekannt, dreihunderttausend Mitglieder zu haben: protestantische Fundamentalisten hauptsächlich, voll Misstrauen gegen die europäische Aufklärung und Säkularisierung, vor allem aber gegen die «verdorbenen Sitten der neuen Zeit». Wippersbergs Rechercheleistung ist beeindruckend. Zusammen mit dem Rauchen wollten die konservativen Christen in den USA damals auch Boxkämpfe und Jazz, anrüchige Tanzveranstaltungen und selbstverständlich Alkohol verbieten. 

Der Verursacher der zweiten großen Angriffswelle gegen die Liebhaber_innen des Tabaks war laut Wippersberg Adolf Hitler. Als spätberufener Vegetarier und Abstinenzler war Hitler besessen von der Reinheit des Körpers, auch von der des «Volkskörpers». Die Kampagnen der Nazis gegen das Rauchen erreichten ihren Gipfel zwischen 1939 und 1941. Die Kampagne verlief sich; zu sehr liebte die Bevölkerung Deutschlands die Zigarette, und die NS-Führungsspitze war in dieser Frage gespalten.

Am Anfang der dritten Welle, so schreibt Walter Wippersberg, stand der «Terry-Report», benannt nach dem damaligen US Surgeon General (dem höchsten amerikanischen Gesundheitsbeamten) Dr. Luther L. Terry, der 1964 mit einem umfangreichen Papier aufwartete: Die Gefahr von Rauchern, an Lungenkrebs zu erkranken, sei bis zu elfmal größer als bei Nichtrauchern. Der wissenschaftliche Wert dieser Studie war nahe des Nullpunkts, aber für Verunsicherung der Bürger_innen war gesorgt. Wippersberg zitierte den großen Triestiner Schriftsteller Italo Svevo, der viel vom Rauchen verstand: «Wenn man schon raucht, dann ist es besser, fröhlich zu rauchen, denn das schadet weniger.» Und das scheint sogar beweisbar, kommentiert Wippersberg: Angst vor Krankheit kann krank machen.

Vor lauter Kulturprojekten keine Kunst

Der Liberalismus des Walter Wippersberg, im Sinne Hannes Hofbauers, war durchwachsen: Radikaler Antikapitalismus spricht aus vielen seiner Texte. Zum Beispiel aus den Texten, die er jedes Mal für seine Literaturzeitschrift «99» schrieb, die man garantiert nirgends käuflich erwerben, die man aber an ruhigen Nachmittagen in der Galerie der Literaturzeitschriften (Wien 1; Schönlaterngasse 9) durchstöbern kann. An der Herausgabe der «99» – die Auflage jeder Ausgabe soll 99 betragen haben; Wippersberg verschenkte sie an Freunde und Bekannte – arbeitete er bis zu seinem Tode. Die Nummer 104 vom Mai 2015 sammelt Klagen über die Kommerzialisierung der Kunst, über die Instrumentalisierung der Künstler_innen durch Eventindustrie und Tourismuswirtschaft. «Der marktwirtschaftliche Kapitalismus ist dabei, nach der Politik auch Kunst und Kultur zu übernehmen», diagnostiziert Walter Kohl in dieser Spezialausgabe zum Thema Kulturbetrieb.

Walter Wippersberg beschrieb darin den Prozess dieser Abschaffung der Kultur: «Früher einmal stand am Anfang eine künstlerische Idee, ein künstlerisches Werk, für das ein Rahmen geschaffen wurde (so bei den Salzburger oder den Bayreuther Festspielen). Heute steht am Anfang vielfach der Satz ‹Wir sollten irgendwas machen›. Aus Gründen der Ankurbelung des Fremdenverkehrs, aus Gründen der Arbeitsplatzbeschaffung für Kulturmanager, aus Gründen der Umwegrentabilität, jedenfalls aus außerkünstlerischen Gründen. Kunst hat in diesen Projekten nur Platz, wenn sie sich instrumentalisieren lässt. Hierzulande könne er inzwischen «vor lauter Kulturinitiativen, Kulturstätten, Kulturprojekten, kultursoziologischen Studien und Kulturmanagern bald keine Kultur mehr sehen». Vom Gesichtspunkt des Arbeitsmarktes her scheine diese Entwicklung vernünftig, weil damit, wenn auch nur kurzfristig, Arbeitsplätze für sonst schwer Vermittelbare geschaffen werden. Kulturpolitisch aber sei das fatal; tatsächlich habe sich da neben der beamteten eine neue, zweite Kulturbürokratie etabliert.

«Und man täusche sich nicht, auch diese Bürokratie neigt wie jede Bürokratie dazu, sich zu verfestigen und zum Selbstzweck zu werden», prophezeit Wippersberg, in diesem Text aus dem Jahr 1999, den er 2015 noch einmal publizierte, weil der Wahrheitsgehalt seiner Prophezeiung inzwischen gewachsen war.

Künstler_innen als die letzten Generalist_innen

Aus diesen Texten spricht eine Sehnsucht nach dem «autonomen» Künstler in Distanz von Markt und Macht, eine Vision, die er mit seiner Generation 68 teilt und die die heutigen Verwertungsfetischist_innen für altmodisch (und marxistisch, was als Synonym für altmodisch gilt) erklären. Wippersberg bekannte sich leidenschaftlich zu dieser Art von Überholtheit. Im Aufsatz «Die Künstler in den Zeiten der Spektakel-Kultur» (2004) argumentierte er: «In den 68er Jahren waren wir einmal der Ansicht, Kunst habe mehr und anderes zu sein als der Zuckerguss auf dem oft trocken oder fad schmeckenden Alltagskuchen, die Künstler (und zum Beispiel besonders die Schriftsteller) hätten also eine gesellschaftliche Funktion auch jenseits des Entertainments. Für mich gibt es heute – objektiv gesehen – wenig Grund, daran nicht festzuhalten. Wir werden von technokratischen Fachidioten und von Politikern regiert, die nicht über den nächsten Wahltermin hinausdenken. Künstler (und besonders Schriftsteller) scheinen mir, wenn sie gut sind, die letzten Generalisten zu sein, die einzigen, die noch über den Tag hinausdenken, – und wir müssen akzeptieren, dass dabei selten etwas augenblicklich Verwertbares herauskommt.»

«Von dem, was ich mir fürs Alter gewünscht habe, von heiterer Gelassenheit nämlich, bin ich derzeit weit entfernt», lautet eine Tagebucheintragung vom 4. Mai 2015. Oft sind «99er»-Ausgaben ausschließlich mit Tagebuchnotizen des Herausgebers und seiner Freund_innen gefüllt. Wippersbergs Eintragungen sind in den späten Jahren zunehmend Informationen über seinen Gesundheitszustand.

Wippersbergs Abgang zeigt an: Die Zeit ist da, in der uns die 68er nach und nach verlassen werden. Zuversichtsfördernd ist dieser Umstand nicht.