Homeless in Seattlevorstadt

Technologiekonzerne lassen die Wohnkosten in die Höhe schießen

Sie nennen es «Obdachlosen-Krise». Seattle, die größte Stadt im Nordwesten der USA, hat im Januar 2016 den Ausnahmezustand erklärt, was das Ausmaß an Obdachlosigkeit betrifft – seither hat sich die Situation sogar noch verschlimmert. Ein Obdachloser und ein ehemals obdachloser Mann erzählten Beate Mayr-Kniescheck (Text und Fotos) von ihren Erfahrungen.

Obdachlose sind im Zentrum stark präsent, und über die Stadt verteilt dienen improvisierte Zeltlager als Wohnquartiere. Außerdem gibt es wie in allen Städten Obdachlosigkeit, die man nicht sofort erkennt, wie etwa Menschen, die in Autos leben. In Seattle sind 54 von 10.000 Einwohner_innen obdachlos.

Yemane Berhe war einer von ihnen. Der 49-Jährige stammt aus Eritrea, 1992 kam er als Flüchtling in die Vereinigten Staaten. Die Wohnsituation war für ihn seither immer wieder ein Problem. In Seattle sind die Mieten hoch, denn Tech-Konzerne wie Amazon und Microsoft sorgen für ständigen Zuzug in die Boom-Stadt. Als Yemane arbeitslos wurde, war er bald auch obdachlos – sechs Jahre lang.

Im Gegensatz zu Österreich sind Wohnungs- und Obdachlosigkeit in Seattle stärker in der öffentlichen Diskussion präsent: Vier große Medien veranstalteten am 19. Juli den «Tag der Obdachlosigkeit». Und die Seattle Times richtete sogar ein eigenes Ressort mit mehreren Mitarbeiter_innen ein, um kontinuierlich und fundiert über Obdachlosigkeit zu berichten. Finanziert wird dieses Ressort hauptsächlich von Leser_innen und großen Geldgeber_innen wie der Bill & Melinda Gates Stiftung.

Hin und wieder liest auch Yemane die Obdachlosen-Berichterstattung der Seattle Times. Doch meist ist er dafür zu beschäftigt, denn mittlerweile hat er zwei Jobs: Der Kontakt zu seiner Arbeitgeberin ergab sich, als er die Straßenzeitung Real Change auf einem lokalen Markt verkaufte. «Ich habe ihn einfach angesprochen und gefragt, ob er für mich arbeiten möchte», erinnert sich Diane Skwiercz. Als Eigentümerin des Eissalons Street Treats braucht sie Mitarbeiter_innen, die flexibel sind und vor allem im Sommer, wenn es viel zu tun gibt, Zeit haben. Für Yemane ein perfektes Angebot: «In den Ferienmonaten verkaufe ich ohnehin weniger Exemplare der Straßenzeitung. Immer, wenn mich meine Chefin im Eissalon braucht, helfe ich ihr. Und Diane ist auch flexibel. Ich arbeite nicht in einem großen Konzern, in dem ich einstempeln und ausstempeln muss. An Tagen, an denen ich das Straßenmagazin verkaufen möchte, kann ich das auch machen», erzählt er.

In guten Monaten verkauft er 700 Exemplare des Real-Change-Magazins, das er um 60 Cent kauft und um zwei Dollar verkauft – ein attraktives Zusatzeinkommen. «Ich habe in meinem Leben viel Scheißarbeit gemacht. Aber diese beiden Jobs, die ich jetzt habe, sind mir am liebsten, weil ich selbständig arbeiten kann», sagt Yemane.

Jetzt kann er sich auch ein Zimmer in einer Wohngemeinschaft leisten. Yemanes kleine Wohnung, die er sich mit einem Freund teilt, kostet rund 1200 US-Dollar pro Monat. Trotzdem ist er glücklich: «Meine Brüder, die in Afrika leben, verdienen nicht so viel wie ich, also kann ich sie finanziell unterstützen. Und ich genieße meine Freizeit, besuche die Vereinsräume der Eritrea-Community, plaudere dort mit Freunden. Ansonsten arbeite ich viel, das habe ich immer schon getan, es macht mir nichts aus», sagt er lachend und zeigt dabei seine markanten Zahnlücken.

Früher Restaurant, jetzt Sozial-Café.

So zufrieden ist Steven Philipps nicht. Wie Yemane war der 54-Jährige früher Alkoholiker. Etwa ein Drittel der Obdachlosen in Seattle ist laut Recherchen des Project Homeless der Seattle Times alkohol- oder drogenabhängig. Steven selbst ist seit einem halben Jahr trocken, hat aber seinen Arbeitsplatz als Restaurantmanager und dann die Wohnung verloren. Staatliche Zahlungen, etwa Mindestsicherung oder Notstandshilfe, bekommt er nicht – keinen Cent. Derzeit übernachtet er in einer Notschlafstelle in Downtown Seattle. Wie in der Gruft in Wien teilen sich hier viele Personen einen Saal. In Stevens Fall schlafen 140 Männer in einem einzigen Raum. Sie alle müssen die Unterkunft morgens wieder verlassen.

Um trotz der schwierigen Lebensbedingungen trocken zu bleiben, besucht Steven jeden Tag das Recovery Café. In dieser privat finanzierten Einrichtung kann er kostenlos essen, Kaffee trinken und sich mit Freunden treffen. Das Recovery Café ist Menschen gewidmet, die durch Obdachlosigkeit und Sucht traumatisiert wurden, sie sollen hier einen Ort haben, an dem sie sich erholen und austauschen können. Die Atmosphäre ist gemütlich, manche spielen Schach, andere lesen, streicheln ihre Hunde oder schlafen auf den Ledersesseln in der Bibliotheksecke.

Am Buffet hilft Steven fast jeden Tag, er kennt die meisten Leute. Für ihn ist das Café wichtig, weil er «hier etwas tun kann». Er weiß, dass ein Rückfall in Alkoholismus und Drogensucht ihn auf seinem Weg zurückwerfen würde: «Ich trage immer eine Liste bei mir, die das verhindern soll», sagt er und zieht ein Blatt Papier aus seinem Rucksack. An den Rändern ist es grau und abgegriffen. Darauf hat er eine Reihe Namen in zwei Spalten aufgelistet und daneben Kreise, Quadrate, Kreuze und Sterne gezeichnet. Während er auf jeden der Namen zeigt, erklärt Steven sachlich: «Isaac ist vor zwei Monaten an einer Überdosis gestorben. Sean hat sich vor sechs Jahren zu Tode getrunken. Katie hat sich vor über zwanzig Jahren umgebracht. Sie alle waren meine Freunde. Aus Respekt gegenüber jenen, die es nicht geschafft haben, muss ich weitermachen.»

 

Hinterzimmer-Verrat

Es ist bizarr: Just jenes Ressort der ­Seattle Times, das sich hauptsächlich der Berichterstattung über Obdachlosigkeit widmet, finanziert sich maßgeblich durch Gelder der Bill & Melinda Gates Stiftung. Dabei sind es Unternehmen wie der Technologiekonzern Microsoft von Bill Gates selbst, welche die Wohnkosten und damit auch die Zahl Wohnungsloser in Seattle in die Höhe schießen lassen. Neben Microsoft und Starbucks gilt vor allem Amazon als Hauptverursacher der massiven Preissteigerungen am Markt. Über 40.000 Mitarbeiter_innen sind in der Zentrale des Online-Handel-Giganten tätig – darunter vor allem Menschen im mittleren Management, die in den letzten Jahren in die Stadt gezogen sind und deren Gehälter überdurchschnittlich hoch ausfallen.

Demgegenüber zählte man in der Stadt im Jänner dieses Jahres 12.000 Obdachlose – ein neuerlicher Höchststand. Unter jenen, die sich die Mieten noch leisten können, gibt mittlerweile rund die Hälfte mehr als ein Drittel des monatlichen Haushaltseinkommens für Wohnkosten aus. Tendenz: stark steigend.

Nicht zuletzt aus diesen Gründen verabschiedete der Stadtrat von Seattle im Frühjahr ein Gesetz, das Konzernen mit einem Jahresumsatz von über 20 Millionen Dollar eine Abgabe von 275 Dollar pro Mitarbeiter_in und Jahr abverlangen sollte. Die veranschlagten Einnahmen von rund 45 Millionen Dollar wollte die Stadtverwaltung zweckgebunden in leistbaren Wohnraum und Maßnahmen gegen die wachsende Obdachlosigkeit investieren. Allein: Nur wenige Wochen nach ihrem Beschluss wurde die «Obdachlosensteuer» Mitte Juni auch wieder zurückgenommen. Kshama ­Sawant, die für die linke Socialist Alternative im Stadtrat von Seattle sitzt, verurteilte den «Hinterzimmer-Verrat» des Stadtrats damals scharf und machte die «schikanöse» Kampagne der großen Konzerne dafür verantwortlich. Tatsächlich drohten diese über Wochen damit, abzuwandern und Ausbaupläne in der Stadt auf Eis zu legen. Von der Rücknahme der «head tax» profitieren unterdessen nicht nur Giganten wie Amazon und Microsoft. Auch die ­Seattle Times, deren Jahresumsatz weit jenseits der 20-Millionen-Dollar-Marke liegt, bleibt von der «Obdachlosensteuer» nun verschont.