Hongkong am Hauptbahnhofvorstadt

Über Bahnhofsrestaurationen (letzte Folge)

Aus Luxus geboren sind Bahnhofsrestaurants und Speisewägen zu klassenlosen Orten geworden – glaubt Chris Haderer (Text & Fotos).

Wer denkt, in Wien würde es nur den neuen Hauptbahnhof geben, umsäumt vom mehr und mehr zum denkmalgeschützten Ziergegenstand werdenden Westbahnhof, und vielleicht noch vom Franz-Josefs-Bahnhof, irrt. Aufgrund des Liniennetzes der Schnellbahn und der Vorortelinie (S7), die eigentlich eine echte Gebirgsbahn ist, hat Wien eine stattliche Anzahl von Bahnhöfen. Nicht immer sind sie auf den ersten Blick als solche zu erkennen, und nicht immer werden Reisende dort eine Restauration vorfinden. Wie die Lokalzeile gegenüber dem ehemaligen Wiener Südbahnhof, die eine rauchgeschwängerte Begegnungszone zwischen den unterschiedlichsten Milieus war, oder die Weinhäuser um den Westbahnhof, die vom mittlerweile verbotenen Straßenstrich in der Felberstraße eine durchaus denkwürdige Note bekamen, zählen landläufig auch Beiseln, die sich in der Nähe eines Bahnhofs befinden, zu Bahnhofslokalen. Den Begriff «Bahnhofsreste» verdienen sie nur selten; wenn sie noch nicht von Kebab & Co. verdrängt wurden, sind es meistens «Bahnhofsbumsn», in denen man kaum Lehrer oder Nobelpreisträgerinnen trifft. Eine Reste ist beispielsweise das Bahnhofsbuffet «Zur Dampflok» in Krumpendorf am Wörthersee, das im Gastgarten die nahen Schienen spürbar macht und in dem es des Öfteren auch Kultur gibt (wie etwa ein Gedenkkonzert für Georg Danzer im letzten Februar). Auf dem Weg nach Villach sollte man dort Station machen, denn das «Plan B» in Villach hingegen ist eine Bumsn. Gastronomisch eine Bahnhofswüste sind beispielsweise auch Liesing, Leobersdorf, Baden, Wiener Neustadt, Mürzzuschlag und St. Veit an der Glan – während das «Café Matz» Ecke Reinprechtsdorfer Straße und Grünwaldgasse in Margareten fast ein «echtes» Bahnhofslokal war. Bis zur Schließung einiger Ausgänge am Matzleinsdorfer Platz in den 1990er Jahren konnte man von der Schnellbahn fast bis zum Lokal unterirdisch gehen, wie auf einem echten Bahnhof. 2008 wurde das Matz vom alten Besitzer übernommen und wird seitdem von der Familie Hubinger geführt. Verwirrend, ja, aber wahr.

Ein Tag mit Olga.

Der einzige Bahnhof, der von fast jedem ÖBB-Fernzug durchfahren wird, ist Wien-Meidling. In meiner Erinnerung ist Meidling ein Bezirk, der vom Bahnhof und seinem Umfeld dominiert wurde. Die Eichenstraße als ewiger Fluss vor dem Bahnhofsgebäude, die denkmalgeschützten Arbeiter_innenheime der ÖBB in der Eichenstraße 13–23; die Umkehrschleife der schon längst eingestellten Straßenbahnlinie 8 vor dem Jugendwohnheim; der Friedhof, der heute noch auf die Bahnsteige herüberwinkt: eine düstere Architektur mit vielen Treppen und Unterführungen aus der Zeit vor einer Jahrhundertwende, bei der man an barrierefreien Zugang nicht einmal zu denken brauchte – und Olga Tschechowa. Mit der deutsch-russischen Schauspielerin Olga Konstantinowna Tschechowa hatte die gute Frau natürlich nichts zu tun, und sie war auch keine Dame, sondern eines von diesen Bahnhofslokalen, die genau genommen keine sind, weil sie sich nicht im Bahnhofsgebäude befinden. Es war ein klassisches Tschocherl gegenüber dem Bahnhof, ein Ecklokal mit so viel Nikotin in den Vorhängen, dass man den halben Bezirk mit ihnen vergiften hätte können; und mit einem gelben Mikado-Kaffee-Schild im Luftsteuer-Raum über dem Eingang. Drinnen ein Interieur, an das man sich nicht allzu lange erinnerte, und ein Publikum von Nihilisten bis Exorzisten; von jugendlichen Schulstanglern bis zu Pensionisten, die sich Anfang der 80er-Jahre noch gut an den Krieg erinnern konnten; von jugoslawischen Gastarbeitern bis zu Rosenverkäufern aus Persien. Vor allem im Winter war es gut möglich, dass man das Lokal morgens im Dunkel betrat und abends im Finsteren wieder verließ. Gehobene Gastronomie wurde nicht geboten; das Personal wechselte häufig ins jeweilige Heimatland zurück, und einmal war tatsächlich eine Dame zugegen, die sich als Besitzerin ausgab und auf den Namen Olga hörte. Anders als ihre Namensverwandte war sie aber weder Schauspielerin noch Sex-Symbol noch Spionin.

Spurlos.

Als Lokal und Sittenbild war die Meidlinger Olga Tschechowa genauso eine gesellschaftliche Zeitzeugin wie der alte Meidlinger Bahnhof – und beide sind längst Geschichte. Die 1841 ursprünglich unter dem Namen Meidlinger Südbahnhof eröffnete Anlage wurde im Zuge des U6-Ausbaus zwischen 1986 und 1989 mit barrierefreien Zugängen ausgestattet und im Rahmen der ÖBB-Bahnhofsinitiative in den Jahren 2002 bis 2005 endgültig dem Erdboden gleichgemacht. Der Widerstand des Denkmalschutzes verpuffte wirkungslos, obwohl es das letzte, noch aus der Zeit der Wien-Gloggnitzer-Bahn stammende Stationsgebäude in ganz Wien war. Viele Details stammten aus dem Jahr 1905, als der Bahnhof renoviert wurde, wie beispielsweise die Fliesen in der Unterführung oder die Bahnsteigdächer. Damals befand sich außerdem eine von den Barmherzigen Schwestern vom heiligen Kreuz betriebene Kapelle im Stationsgebäude, die später in ein neu errichtetes Klostergebäude umgesiedelt wurde. 1934 spielte der Bahnhof während des Österreichischen Bürgerkriegs eine historische Rolle, als der Polizist Josef Schiel von einem Arbeiter erschossen wurde. Nach der Zerschlagung einer Demonstration besetzte der Republikanische Schutzbund die Eichenstraße, bis Polizei und Bundesheer den Bahnhof zurückerobern konnten. All diese Spuren sind längst verwischt – der neue Bahnhof Meidling befindet sich eigentlich bei der Philadelphiabrücke, das neue Bahnhofslokal heißt McDonald’s und dort, wo einmal Olga Tschechowa war, ist jetzt sozusagen der Hinterausgang des Bahnhofs. Und, ja, auch ein gelbes Mikado-Schild wird man vergeblich suchen: Die 1866 in Wien gegründete Tee- und Kaffeevertriebsgesellschaft wurde in den 1960er-Jahren erst von Arabia übernommen, 1984 dann von Julius Meinl, der die Marke einstellte.

Tod im Speisewagen.

Einer der persischen Rosenverkäufer aus dem Olga Tschechowa hieß Reza. Er machte an der HTL Spengergasse eine Ausbildung zum Textiltechniker und fuhr während der Sommerferien nach Innsbruck, weil dort die Rosengeschäfte besser verliefen. Einmal begleitete ich ihn bis nach Wiener Neustadt, und Reza weigerte sich, im Speisewagen Platz zu nehmen. Misstrauisch betrachtete er die losen Stühle, die Aschenbecher am Tisch und die herumstehenden Gedecke. «Gehen wir ins Abteil», sagte er. «Wenn ein Zugunglück ist, haben wir im Speisewagen keine Chance.» Offenbar hatte er Angst, sein Leben im Ernstfall als ballistischer Flugkörper an der Wand einer Wagon-Lit-Küche auszuhauchen. Das machte mich kurz nachdenklich: Tatsächlich scheint es keine öffentlich zugänglichen Statistiken über die Überlebenschancen von Speisewagen-Passagieren bei Zugunglücken zu geben. Den Schriftsteller Charles Dickens soll es 1865 auf der Fahrt von Paris nach London erwischt haben, als eine Brücke einstürzte – er blieb unverletzt. Pech hatte im Oktober 1888 auch der russische Zar Alexander III., als sein Zug auf dem Weg von St. Petersburg bei Borki entgleiste: 23 Menschen wurden getötet, wie Dickens blieb die im Speisewagen sitzende Zarenfamilie jedoch unverletzt. Zwanzig Jahre später fiel mir das überraschend wieder ein; wieder in einem Speisewagen, im Rahmen einer «rollenden Lesung» zwischen Wien und Wr. Neustadt. Nach der kleinen Zugfahrt beendeten die Wiener Autoren Peter Hiess und Christian Lunzer die Lesung aus ihrem Buch Mord-Express im Restaurant des ehemaligen Südbahnhofs und berichteten vom Unglück von Sinnington im Jahr 1841: «Vor allem die stehenden, haltlosen Reisenden der dritten Klasse waren getötet worden.» Erst das führte zu einer Vorschrift, dass die Passagiere der dritten Klasse «künftig wie Menschen, nicht wie Vieh behandelt werden» durften. Die Geschichte ging mir ein weiteres Mal durch den Kopf, als ich 2008 den ersten Buffetwagen im Railjet betrat, der nur mit Stehtischen ausgestattet war. Mittlerweile gibt es dort nicht nur «haltlose Reisende», sondern auch Sitzgelegenheiten, und der Speisewagen ist heutzutage der einzige klassenlose Ort im Zug. Das ist anders geworden, im Vergleich zur Blütezeit der Speisewägen und Bahnhofsrestaurants, die einmal den Luxus des Reisens zum Ausdruck brachten.

Neue Regeln.

Heute zeugt die klassenlose Restaurations-Kultur auf Großbahnhöfen außerdem vom wachsenden Migrationsanteil in den Städten. Klassische Wirte werden nachhaltig ausgelöscht von Wettbüros mit angegliederter Konsumation, von Fastfood-Ketten und von einem gesteigerten Herzschlag. Hongkong am Hauptbahnhof, ein Schmelztiegel wie eh und je – aber mit neuen Protagonist_innen und neuen Regeln: Tempo ist zur Normalität geworden; im Leben, beim Reisen und beim Essen. Die Verbindungen sind heute schneller, besser und sicherer als in den 1970ern, in denen Fahrkarten noch kleine Pappstreifen waren. Wir allerdings werden auf Reisen zu Selbstversorgern …

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