Hüseyin wäre gern im DorfDichter Innenteil

Die Abenteuer des Herrn Hüseyin (84)

Herr Hüseyin ist dabei, wie die Wiener, wenn das Wetter ein bisschen schwül ist, zu jammern. Als würde er keine anderen Sorgen haben. Wahrscheinlich spielt das Wetter in seinem Leben für sein Gemüt eine große Rolle.

Über Facebook verfolgt er in den Sommermonaten, wer von den Menschen aus seiner Gegend, die im Ausland oder in den großen Städten der Türkei leben, ihr Dorf besuchen. Jeder oder jede, die es besucht, postet irgendwelche Fotos von dort. Auf der einen Seite ist Herr Hüseyin neidisch, weil er auch sehr gerne in seinem Dorf sein würde. Aber andererseits ist er froh, in einer Zeit des Ausnahmezustands nicht dort zu sein. In den 90ern wurden diese Gebiete auch mit Ausnahmezustand regiert. So gesehen war der Ausnahmezustand in dem kurdischen Gebiet nie aufgehoben worden. In diesen Zeiten wurden sehr viele Beobachtungsposten der Militärs im kurdischen Teil der Türkei gebaut. Diese hatte man auf den höchsten Punkten gebaut. Von dort aus konnte man alles beobachten. Die waren Spechtler der Bauern. Auch wenn man in der Nacht in der Natur außerhalb des Dorfes pinkeln wollte, konnten sie mit Nachtsichtgeräten das Ganze sich anschauen. Eines der schlimmsten Ereignisse war, dass sie die Nomaden nicht mehr auf die Berge ließen. In den Sommermonaten waren auch die Roma mit ihren Zelten in den Bergen unterwegs. Sie hatten eher ihre Pferde mit. Dort, wo Hüseyin herkommt, bezeichnete man die Roma («Zigeuner») als Siebmacher. Die Männer betrieben Pferdehandel. Sie verkauften Siebe. Wenn sie im Dorf waren, sammelten sie Mehl und Butter. Sie zelteten an den schönsten Orten des Dorfes. Meist bei den Quellen. Sie besaßen oft Kangalhunde, die sie vor wilden Tieren warnten. Als Erste kamen die Roma nicht mehr auf die Berge. Nachher hat man den Bauern verboten, auf die Alm zu gehen. Der Grund war, dass die Bauern die kurdischen Guerillas mit Lebensmitteln versorgen würden. Diese Verbote wurden auf alle Teile des türkischen Kurdengebiets ausgeweitet. Es sind sowieso lange Winter in dieser Gegend. Wenn die Bauern ihre Tiere nicht einige Monate auf den Bergen weiden lassen können, können diese Tiere sowieso den Winter nicht überleben. Auf die Art und Weise hat man in dieser Region Viehhaltung zu Ende gebracht. Viele haben ihre Tiere verkaufen müssen. Plötzlich mussten diese Menschen Städter werden. Am Rand der großen Städte der Türkei entstanden viele kleine Dörfer. Die beeinflussen auch das städtische Leben.

Die Milchprodukte müssen im Ausland gekauft werden. Jetzt ist das Kilo Fleisch in der Türkei um einiges teurer als im EU-Raum. Die Guerillas waren nie gefährlich für die Bauern. Um diese Ader zum Volk zu beschneiden, hat man einfach den Menschen verboten, ihre Tiere auf die Berge zu führen. Das alles wegen der «Sicherheit der Bauern». Die größten Investitionen der Türkei im kurdischen Gebiet seit der Gründung der türkischen Republik sind Gendarmeriestationen. Viele Dörfer in dem Gebiet gibt es nicht mehr.

Die Distanz zu Wien ist ziemlich groß. Es sind 2700 km. Das ist eine lange Strecke. Die Schwester Hüseyins ist mit ihren Kindern jetzt im Dorf. Die Kinder werden an den Fluss geführt. Das ist der Fluss, in dem viele aus seiner Generation geschwommen sind. Hüseyin ist mit seiner Trauer nicht allein. In anderen europäischen Ländern sind viele andere, die seit einem Vierteljahrhundert nicht in das Dorf fahren können. Im Monat Juni ist man im Dorf mit den Tieren auf die Alm gegangen. Ein Monat der Wanderung. Hüseyin fährt dieses Jahr nicht, ansonsten ist er jedes Jahr dort. Solange das Land mit Ausnahmezustand regiert wird, bleibt er bei seinen Freund_innen.

Schönen Sommer!

Ihr Hüseyin

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