I flick di wieda zaumHeroes

"Wo ist der Augustin?", fragen alle, wenn Adi Buchgraber fehlt

„Standortentscheidungen sind im Handel von großer Bedeutung, da sie den Grundstein für den späteren Unternehmenserfolg bilden. So stellt die Qualität eines Standortes ein wichtiges Wettbewerbsparameter dar, was die Zukunft des Unternehmens mitprägt. Die Wahl des Standortes ist zudem eine strategische Unternehmensentscheidung, da hier meist längerfristige und aufwändige Bindungen eingegangen werden.“ Auch ohne das Wirtschaftsfachbuch (dem diese Stelle entnommen ist) zu kennen, hat Augustin-Kolporteuer Adi Buchgraber „marktgerecht“ gehandelt. Er hat seinen Verkaufsplatz – beim Merkur-Markt in der Muthgasse – durch eine ebenso kluge wie liebenswürdige Standortpolitik abgesichert.Die Faktoren von Adis persönlicher Standortpolitik“ sind langer Atem, Hilfsbereitschaft und das Talent, sowohl zuhören als auch aufmuntern zu können. Nach siebenjähriger „Betreuung“ der Merkur-KundInnen zählt er heute, so hört er es immer wieder, zum „Inventar“ der Filiale. Das Feld der Konkurrenz um die attraktivsten innerstädtischen Verkaufsplätze, in die so viele StraßenzeitungskollegInnen oft bis zu Zerwürfnissen verstrickt sind, hat Adi nie betreten. Der Lohn ist die ungetrübte Akzeptanz, die ihm entgegen gebracht wird und die sich – „vor allem zur Adventzeit“, schmunzelt Adi – auch am Trinkgeld messen lässt, das sich in seinen Taschen ansammelt.

Verschiedene Filialleiter hat Adi Buchgraber schon erlebt. Zu jedem hatte er ein gutes Verhältnis. „Der erste testete die Zeitung“, erinnert sich der Verkäufer. „So fing meine Merkur-Zeit an. Ich fragte den Chef, ob er mir erlaube, hier den Augustin zu vertreiben. Er gab mir das Geld für die aktuelle Ausgabe, nahm sie mit, kam vier Stunden später zu mir und sagte: Okay. Sie können hier verkaufen.“

„Ist heute der Augustin nicht da?“, fragen die Kunden, wenn Adi aus welchen Gründen auch immer fehlt. Meistens verkauft er nachmittags, am Samstag oft ganztägig. Als er im Februar und März des Vorjahres auf Kur war, waren so manche Stammkunden irritiert. „Als ich zurückkam, stand der Chef mit einer großen Bonbonschachtel vor mir. Er wollte sich für meine Handlangerdienste bedanken: Ich stell die Einkaufswagerl zusammen und schaufle im Winter den Schnee vor der Garage weg. Mach ich Ihnen damit überhaupt eine Freude?, fragte er dann zweifelnd. Plötzlich kam er mit zwölf Flaschen Sekt zu mir. Zwei leerte ich zusammen mit den Merkur-Beschäftigten“, erzählt der Augustinverkäufer.

Selbst wenn er eines Tages den Augustin zum Überleben nicht mehr bräuchte, würde er weiterhin als Straßenzeitungsverkäufer vor dem Merkur stehen. Eben weil er zum Inventar gehört. Und weil er quasi die Wechselstube für die Einkaufswagerlbenützer ist. „Der Augustin kann eh wechseln“, ist ein geflügeltes Wort an seinem Standplatz. Auf einem der Wägen hängt ein F13-T-Shirt, neben der Zeitung gibt es auch das bei ihm zu erwerben. Adi muss immer wieder erklären, was das Kürzel bedeutet.

Der Mann, der dreimal geboren wurde

Adi Buchgraber hat eine weitere wichtige Funktion zu erfüllen: „Viele Kunden wollen sich bei mir das Herz ausweinen. Es geht immer wieder aufwärts, sage ich ihnen. Ich erzähle ihnen von meinen drei Geburten und von meiner Überzeugung, dass man sich selber an den Haaren packen müsse, wenn man tief unten gelandet ist. Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott, sage ich den Leuten.“

Klar, dass Adi nun auch uns die Geschichte seiner drei Geburten erzählen muss. „Geboren wurde ich vor 67 Jahren in Korneuburg. Das war meine erste Geburt. Obwohl ich in Kriegszeiten auf die Welt kam, 1939, kann ich mich nur an eine schöne Kindheit erinnern. Die Mütter, das weiß ich, haben die Russen gescheut, aber wir Kinder waren immer bei ihnen. Die zweite Geburt geschah nach einem Verkehrsunfall: neun Monate Krankenstand, zwei gebrochene Beine und andere Verletzungen, die ich gar nicht alle aufzählen könnte. I flick di wieda zaum, sagte der Primararzt – damals kaum zu glauben, wenn man mich sah. Doch ein Jahr nach dem Unfall konnte ich eine 80-Kilometer-Wanderung des Heeressportvereins mitmachen. Die Unfallserfahrung brachte mich zum Roten Kreuz, für das ich – neben meiner Arbeit – 25 Jahre lang tätig war.“

Und die dritte Geburt? Adi Buchgraber überlebte einen Herzinfarkt, der eindeutig eine Folge der Zerrüttung seiner Familie war. Nach der Heirat in den 60er Jahren war jede freie Minute mit Häuslbauaktivitäten belegt. In dieser Zeit pendelte Adi täglich nach Wien, wo er „beim Bund“ seinen Job hatte – als Tischler im Völkerkundemuseum. Um vier Uhr nachmittags kam er nach Hause und arbeitete weiter, oft bis zwei Uhr Früh. Obwohl er um halb vier in der Früh weder aufstehen musste. Die letzte Arbeit, Mitte der 80er, galt dem Dachausbau.

Außer einen Schuldenberg hat Adi Buchgraber heute ums Verrecken nichts vom neuen Dachgeschoß. Vor acht Jahren wurde die Ehe geschieden. Damit verlor er das Haus, das zur Hälfte dem Sohn, zu einem Viertel der Gattin gehörte. Der aus Adis Perspektive verkommene Sohn, der aber mit seiner Mutter ein Bündnis gegen den Vater eingegangen war, habe eine große Rolle bei der Zerrüttung der Ehe gespielt. Noch immer spürt man eine große Portion Groll in Adis Erzählungen. Einmal, als der Sohn auf seine Eigentumsrechte gepocht habe, musste er mit ihm Tacheles reden: „Schließ deine Augen. Alles, was du jetzt siehst, gehört dir. Du hast nämlich keinen Handgriff für dieses Haus gemacht.“ Das Recht allerdings war an der Seite des „Nichtsnutz“. Adi Buchgraber fühlte sich jedenfalls von seinem Sohn aus dem Haus geworfen, in das er 20 Jahre Arbeit investiert hatte: „Ein klassischer Rauswurf!“

Drei Monate lang übernachtete Buchgraber in der „Gruft“, dem Caritas-Asyl unter der Mariahilfer Kirche. „Andreas Schmid und Thomas Maier, damals die Sozialarbeiter beim Augustin, haben mich dort angesprochen. Das war vor acht Jahren. Seit damals bin ich beim Augustin.“ Nach dem Herzinfarkt, seit 1996, ist Adi in Pension. Heute bleiben ihm 200 Euro im Monat zum Leben übrig. Kreditrückzahlungen für das Haus, das ihm nicht gehört, und Unterhaltszahlungen für die Ex-Frau fressen die Pension auf. „Der Bund“, wie er seinen früheren Arbeitgeber nennt, war keine Lebensversicherung. „Als Gott die Beamtengehälter sah, drehte er sich um und weinte bitterlich“, zitiert Adi schmunzelnd eine imaginäre Bibelstelle. „Was für ein Widerspruch zu dem Vorurteil, das man auf der Straße immer wieder hört: Beim Bund verdient man ohne sich anzustrengen“, ärgert sich der Kolporteur. Auf die Frage, wie er sich über Wasser halten würde, gäbe es den Augustin nicht, weiß Adi keine Antwort.

Stammkunden zwischen 20 und 80

Über das Sozialprogramm der Stadt Wien bekam Adi eine Startwohnung und schließlich eine Gemeindewohnung im 19. Bezirk, wo er mittlerweile länger als drei Jahre lebt. Neben seiner Arbeit als Kolporteur hilft Adi seiner Freundin aus, die im 19. Bezirk ein China-Restaurant betreibt. Sie stammt aus Taiwan. Und ist Nutznießerin eines Hobbys von Adi: Kochen. „Sie liebt meine österreichische Hausmannskost, ich liebe ihre chinesische Hausmannskost, auch wenn diese mich manchmal zum Schwitzen bringt. Einmal hat sie mir so die Grippe geheilt.“

Das Gespräch wendet sich wieder dem „Standort“ und seiner Stammkundschaft zu. „Meine Erfahrung ist, dass die Leute den Augustin gern lesen. Wann kommt der nächste, fragen mich die Kunden, auch wenn die aktuelle Nummer nicht einmal eine Woche erst auf dem Markt ist. Wollt ihr jede Woche einen Augustin, frage ich dann. Meine Kunden sind zwischen 20 und 80 Jahre alt, die Mehrzahl sind Frauen“, so Adi Buchgrabers Marktforschungsergebnisse.

Am Ende ist wieder Adi Buchgrabers Rolle als Seelsorger des Merkur-Marktes Thema. „Ja, ich bin wie ihr Pfarrer“, lacht Adi. Ob er die entsprechende Gläubigkeit mitbringe, wollen wir wissen. Das ist meine Privatangelegenheit, könnte er nun sagen, aber er tut es nicht. Er gibt gerne Auskunft über die Buchgraber’sche Art von Frömmigkeit: „Viele sagen, es gibt nichts, woran man glauben kann. Ich aber sage: Es gibt doch was. Weil von-mir-nix-dir-nix kommt nix. Ich bin kein praktizierender Christ. Aber ich weiß, dass es Schutzengel gibt. Du kannst auch sagen: Es gibt ein Wesen. Ich habe bisher in meinem Leben so viel mitgekriegt, dass ich das behaupten kann.“ Hier wieder der Verweis auf seine „drei Geburten“ …

Skeptisch, wie wir nun einmal sind, wollen wir den Umstand, dass Adi Buchgraber noch alle zehn Finger besitzt, obwohl er Tischler und Häuslbauer war, nicht als Schutzengelbeweis zulassen. Immerhin hat Adi eine Kreissägenschnittwundennarbe vorzuweisen. Nach dem Gespräch in der Augustin-Redaktion, das einen Bogen von intuitiver Standortpolitik zu den Schutzengeln schlug, fällt uns die Vorstellung leicht, dass es Augustinkolporteure gibt, die erwünscht und beliebt sind wie eine „Ansprach“ in der Einsamkeit, eine funktionierende Telefonzelle, ein nicht geschlossenes Häusl, eine humorvolle Durchsage des U-Bahnchauffeurs, ein Wirt, der auf die Sperrstunde pfeift, ein Kieberer, der nur abmahnt, ein Bier unter drei Euro und alles, was sonst noch schätzenswert in dieser Stadt ist.

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