Ich bin die ich binDichter Innenteil

Auszug aus dem gleichnamigen Roman von Gabriele Vasak, in dem es um drei Frauen geht, die von einer rätselhaften Krankheit befallen sind. Jede findet für sich ganz individuelle Wege der Bewältigung.

 

Im Laufe der Jahre hatte ich mich an die Bedingungen meines Lebens gewöhnt. Ich lebte in meiner eigenen Wohnung, ging einer fast regelmäßig zu nennenden Erwerbstätigkeit nach und war darin geübt, meine freie Zeit vor allem allein zu verbringen und meine eigenen Interessen zu verfolgen. Dazu gehörten auch verschiedene Zeitungen, und als ich einmal in einem dieser Blätter las, stieß ich auf einen Bericht über eine Künstlerin, deren Arbeit sich um ihre eigene Erkrankung drehte. Ich weiß noch, dass ich überlegte, ob ich den Bericht wirklich lesen wollte, denn ich meinte, in dieser Hinsicht alles für mich geklärt zu haben, aber dann fiel mein Blick auf das Wort «Kugelschmerz», ein Begriff, den es so nicht gibt, und von dem ich glaubte, ihn für mich persönlich erfunden zu haben. Die Künstlerin namens Susan O. beschrieb in dem Artikel ihr Krankheitsbild, das in allem dem meinen glich, und das man mir mein ganzes bisheriges Leben lang zuerst als unbekannt und später als höchst selten erklärt oder vielmehr dargestellt hatte. Gierig las ich den Bericht zu Ende, in dem auch die Rede davon war, dass die Künstlerin versuchte, das Rätselhafte und Unbenennbare, das mit der Erkrankung verbunden war, mit ihren Mitteln darzustellen. Soweit ich es verstand, hatte sie ihre Krankheit zunächst in einzelnen, herkömmlich gesehen sinnlosen Buchstabenfolgen und Bleistiftkritzeleien erfasst. Diese hatte sie anschließend mittels eines eigens für diesen Zweck von ihr erstellten Bildklanggeräts in Töne verwandelt, die sich vice versa wiederum zu Bildern entwickelten.

Ich nahm die Zeitung wieder zur Hand und sah mir die Illustration des Berichts, die ich zuvor nur flüchtig wahrgenommen hatte, an. Das Bild zeigte den fünfteiligen, aus mit Film- und Tonrollen bestückten Holzkästen bestehenden Apparat. Im Hintergrund sah man undeutlich, wie sich die Künstlerin daran zu schaffen machte. Ich versuchte, die Züge von Susan O. zu erkennen, aber ihr Gesicht war – wohl absichtlich – verschwommen dargestellt. Nichts hätte mich jetzt mehr interessiert als das Aussehen dieser Frau.

Ich legte die Zeitung beiseite und startete meinen Computer. Meine Hände zitterten, als das Gerät endlich hochgefahren war und ich die Suchmaschine startete und den Namen von Susan O. eingab. Zuerst fand ich sie im Verzeichnis der Absolventen einer Kunsthochschule. Dort waren in einer langen Liste ihre wichtigsten Ausstellungen und Performances angegeben. Ich erfuhr auch, wo sie geboren war, und stieß dann auf ein Porträtfoto der Künstlerin. Die Frau, die dort mit verschlossener Miene in die Kamera blickte, musste nicht nur in etwa gleich alt wie ich sein, sie ähnelte mir auch in einigen wesentlichen Zügen. Mein Herz schlug wild, in meinem Bauch machte sich ein bekanntes Grimmen bemerkbar, ich spürte, dass mein Gesicht hitzte, Schweiß rann aus meinen Achselhöhlen. Ich hämmerte auf die Tastatur des Computers, um weitere Bilder von Susan O. zu finden und feststellen zu können, ob ich mich nicht getäuscht hatte. Zwei andere Porträtfotos bestätigten mir aber noch mehr Ähnlichkeit zwischen der Künstlerin und mir. Ich begann, alles, was das Internet über sie hergab, zu durchsuchen.

Sie beschäftigte sich seit über zwanzig Jahren mit dem Thema Krankheit und im Besonderen ihrer eigenen Krankheit. In ihren Arbeiten hatte sie sich nicht nur mit physischen und psychischen Auswirkungen von rätselhaften Leiden auseinandergesetzt, sondern auch mit materiellen und sozialen, allen voran dem Stigma, das mit solchen Krankheiten verbunden ist. Sie suchte das Kleine im Großen, das Einzigartige im Allgemeinen, das sie bis in seine kleinsten Teile sezieren wollte. Ich kehrte zu den Seiten zurück, die spärlichste biographische Hinweise enthielten, und fand eine einzige relevante Information: Geburtstag und Geburtsort von Susan O. waren dieselben wie meine. Längst war ich von meinem Sitzplatz am Computer aufgestanden, hatte Runde um Runde im Zimmer gedreht, hatte im Versuch, mich zu beruhigen, gläserweise Wasser getrunken und hätte gern starken Alkohol in mich geschüttet, aber ich wollte ganz klar im Kopf bleiben und gleich bei einer Galerie, in der Susan ausgestellt hatte, anrufen, als ich bemerkte, dass es spätabends geworden war. Ich hatte Stunden bei meiner Suche nach Susan O. verbracht.
Ich druckte die Porträtbilder, die ich gefunden hatte, so groß wie möglich aus, nahm sie mit ins Badezimmer und stellte mich damit vor den Spiegel, um meine Gesichtszüge mit denen jener Frau, die zumindest jedenfalls meine Geistesschwester war, zu vergleichen, aber ich war schon völlig erschöpft, und mit der Müdigkeit kamen mir auch Zweifel. Eine schale Traurigkeit überfiel mich. Ich fragte mich, ob eine tatsächliche Begegnung mit Susan O. nicht mein mühsam errichtetes Lebens- und Glaubensfundament einstürzen lassen könnte, und eine Stimme in mir sagte, dass ich einer Illusion aufsaß und mein Vorhaben, Susan. O. kennenlernen zu wollen, fallen lassen sollte. Aber wenn mein Blick auf ihre Porträts fiel, kam mir die Tatsache, dass wir beide einander sehr ähnelten, unbestreitbar vor und als der beste Grund, meinen Plan nicht aufzugeben.

 

Gabriele Vasak, geboren in Wien, lebt und arbeitet ebendort und in der Steiermark. Sie hat ­mehrere Romane, zwei Lyrikbände und ­Bücher, in denen sie medizinische Inhalte belletristisch aufarbeitet, veröffentlicht.

Weitere Publikationen: Mauersegeln. Roman 1998, Sturzfliegen. Roman u. Sachbuch, gemeinsam mit H. Katschnig 2001, Die Muse bin ich. Roman 2006, ­Sowieso ­allein. Roman 2009, Dunkelweiß – Über die vermeintliche Liebe. Lyrik 2012, Verwehte Erinnerung. Sachbuch mit belletristischen Skizzen, gemeinsam mit H. ­Unterluggauer 2013, Den Dritten das Brot. Roman 2016, Wir, Töchter der Königin der Nacht. Texte und Bilder 2020.

www.gabriele-vasak.at

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