Seit 20 Jahren ist Stefan obdachlos. Nach einer anfänglichen Neugier in der Großstadt hat er in der Natur sein Zuhause gefunden. Ein Augustin-Reportageteam hat ihn in der Klosterneuburger Au besucht.
Text: Florian Müller
Fotos: Heinz S. Tesarek
Wir heben die Schranke, auf der «Betreten verboten» steht, und gehen durch. «Das Taferl ist eigentlich super, weil nicht jeder ist so ein Gesetzesbrecher wie ich.» Hier hat er optimalerweise seine Ruhe, will uns Stefan damit sagen, der uns auch erklärt, dass im Wort Gemeinschaft ja auch das Wort gemein steckt. Viele Menschen, das ist nicht so seines. Eine Zeit lang hat Stefan hier mit seinen Haberern Meppy und Alex gelebt, aber das ging dann einfach einmal auseinander. Wir folgen dem 36-Jährigen gebürtigen Innviertler auf einem Asphaltweg am Donauufer, der sich in der Vegetation verläuft. Im Gebüsch zeigt Stefan auf ein Fahrrad und einen Fahrrad-Wohnwagen, der tatsächlich groß genug ist, um darin zu schlafen, und gleichzeitig leicht genug ist, um ihn mit dem Drahtesel mühelos zu ziehen.
Seine Erfindung sei das nicht, räumt er ein. Das habe er auf YouTube entdeckt. «Aber so wie ich das gemacht habe, gibt es das nicht», ist Stefan auch ein wenig stolz. Er hat sich einen Radanhänger gekauft und dann umgebaut. Die Materialien dafür habe er von einem nahegelegenen Schrottplatz wie etwa einen gebogenen Bauzaun, der den Korpus bildet. Die Aluminium-Luftpolsterfolie, die ihn vor Hitze und Kälte schützt, habe ihm ein Kumpel online bestellt. Unten halten Austrotherm-Platten warm. Auch an ausreichend Stauraum hat er gedacht. Stolz ist er darauf, aber auch selbstlos: «Wenn du einen Obdachlosen kennst, der das unbedingt haben will, dann schenke ich ihn her.»
Sandler, Wiesler, Betonler.
Früher habe er auch hier in der Klosterneuburger Au am sandigen Ufer geschlafen, da war er ein Sandler. Aber jetzt, jetzt schlafe er ja in der Wiese und sei ein Wiesler oder ein Betonler, meint er zum fast überwucherten Asphalt. Denn das Schlafen am Flussufer hätte durchaus seine Tücken. Da sind einmal die Gelsen und das Hochwasser. Und schließlich sind auch Biber keine zu unterschätzende Gefahr. Ein Freund von ihm habe einmal einen Biber schmatzen gehört und hätte dann ziemlich schnell das Zelt woanders aufgebaut, um nicht irgendwann von einem Baum erschlagen zu werden.
«Das, was ich an Wien schön finde, ist die Donau», erklärt Stefan, der früher oft auf der Donauinsel übernachtet hat. Dort hat er aber sehr negative Erfahrungen mit der Polizei gemacht. Einmal kam sogar die Wega mit zwei Bussen, weil sie zu dritt in Schlafsäcken unter einer Brücke übernachten wollten. Die Schikanen der Polizei nennt er als wesentlichen Grund, warum er schließlich von der Stadt aufs Land gezogen ist. Auch hier in Klosterneuburg habe ihn die Polizei schon fünfmal besucht. Einmal sei sie sogar bis zu seiner Schlafstelle vorgebraust. Manchmal haben sie eine Passkontrolle durchgeführt, ein anderes Mal haben sie einfach nur gefragt, wie es ihm geht. «Seit ich mit dem Bürgermeister gut bin, sind die irgendwie freundlich geworden», erzählt Stefan. Der Bürgermeister habe ihn einmal beim Holzholen angesprochen und ihm seine Hilfe angeboten. Er organisierte ihm einen Schlafsack und brachte zu Silvester eine Palette Wieselburger vorbei. Der Bürgermeister war es auch, der sich bezüglich des Grundstücks schlau gemacht hat, auf dem Stefan gerade siedelt. Mit den Besitzern habe er vereinbart, dass Stefan jedenfalls bis zum Sommer bleiben kann.
«Ich bin irgendwie in der Gesellschaft nicht so angesehen», meint Stefan, der aber nicht nur Ablehnung erfährt. «Wenn ich jetzt wirklich versuche, der beste Mensch der Welt zu werden, einen auf Jesus zu machen … Sogar Jesus haben sie ans Kreuz genagelt, verstehst?» Apropos Jesus. Ist Stefan religiös? «Ich bete schon manchmal zu Gott. Manche glauben, ich führe Selbstgespräche, aber vielleicht sind es ja Selbstgespräche, weil es Gott nicht gibt.» Und schließlich stehe in der Bibel auch nichts von einer Stadt Eden, sondern von einem Garten Eden. Für Stefan ist das ein Grund, warum er sich in der Natur einfach wohler fühlt.
Whirlpool und Speisekammer.
Wir begleiten Stefan weiter durch sein Zuhause, denn am Ende der Straße sehen wir ein verlassenes Zelt, ein richtiges Tipi, und eine Badewanne. Mit dem Eimer, in dem er auch die Wäsche wäscht, holt er Wasser aus der Donau. Unter die gusseiserne Badewanne legt Stefan dann Holzscheiter und wärmt so das Wasser. In einer Stunde sei es wunderbar warm. Man dürfe sich nur nicht an jene Stelle setzen, unter der der Scheiter liegt, sonst wird es heiß. Die Badewanne habe er auch auf der Entsorgungsstelle gefunden. Es sei unglaublich, was die Leute so weghauen. Wenn er wollte, könnte er sich hier fünfzig Badewannen aufstellen. Wenn er so allein ist, kommt er auf so allerlei Gedanken. Dann bedankt er sich plötzlich bei diesen Menschen, die die Badewanne gemacht haben. Denn Stahl wird schließlich aus menschlicher Hand geformt. Gerne geht er auch in der Donau schwimmen und lässt sich dann von der Strömung ein wenig treiben. Die Schwäne, mit denen er manchmal sein Brot teilt, sind hier seine Begleiter. Gar nichts anfangen kann er allerdings mit Hunden. Die würden immer alles markieren und herumkläffen. Er würde sich höchstens einen Hund halten, um sich Hunde vom Leib zu halten, scherzt Stefan.
Volle Tonnen, volles Regal.
«Ich geh am Samstag wieder dumpstern und dann ist das Regal wieder voll», kündigt Stefan an. Wir treffen ihn gegen Ende der Woche, und im Regal steht nur noch ein Koffer mit Gewürzen, Senf und Co. Denn gerade am Samstag würden die Supermärkte viele Waren entsorgen, die über das Wochenende ablaufen. Und im Grunde genommen dumpstert er nicht nur für sich. «Was schlecht oder schimmlig wird, das haue ich einfach wieder in die Natur. Das kompostiert sich eh und ist für die Pflanzen Nährstoff, oder das holen sich die Raben oder die Igel. Auch ein Reh habe ich schon einmal gesehen.» Natürlich passe er auf, dass ihn beim Dumpstern niemand sieht. Denn Österreich sei ja das Land der Denunzianten. Ein Freund habe nach dem Dumpstern sogar einmal eine Anzeige wegen Diebstahl bekommen. Die wurde dann aber fallen gelassen. «Ich meine, Dumpstern, Diebstahl?! Das ist ja eigentlich kein Diebstahl, das ist ja Müll!» Apropos Müll: Den sucht man in Stefans Zuhause vergeblich. Offensichtlich achtet er genau darauf, sich seine Natur sauber zu halten.
Mit dem Rad bis auf die Philippinen.
Stefan wurde sogar einmal eine Gemeindewohnung in Wien angeboten. «Das ist nur Beton, das hat keinen Wert», winkte er ab. Nach Klosterneuburg kommt Stefan schon seit zehn bis 15 Jahren, an seinem aktuellen Platz ist er seit letzten September. Wie es im Sommer weitergeht, wenn seine Duldung ausläuft, weiß er noch nicht. Aber irgendwann hat er ohnehin vor, mit seinem Rad um die Welt zu ziehen. Vielleicht besucht er einmal seine Freundin auf den Philippinen, die er im Internet kennengelernt hat. Vielleicht richtet er ja einen YouTube-Kanal ein und findet ein paar Follower:innen. Auf dem Weg will er auch die Türkei, den Iran, Pakistan und Indien kennenlernen. Mit seinem Liebesleben ist Stefan aber genauso geduldig wie mit seinen allgemeinen Lebensumständen. «Irgendwann wird es schon passen. Auf den Philippinen habe ich ja die Bekanntschaft. Und wenn nicht dort, dann vielleicht woanders. Und wenn nicht, wollte es halt nicht sein.»