«Ich habe aber gelernt zu schweigen und zuzuhören»tun & lassen

Jugoslawien, 25 Jahre nach dem Krieg: ein Dialogprozess

Wenig überraschend: Der Krieg in Jugoslawien hat keine Probleme gelöst, sondern viele geschaffen. Zum Beispiel die Idee, dass Empathie eine ethnische Frage ist. Und dass nur die «eigenen» Toten eigene Tränen wert sind. Im Oktober hat das «Center for Nonviolent Action» in Sarajevo einen neuen Dialogprozess gestartet. Robert Streibel war dabei.

Foto: CNA

Wenn ein Land nichts hat, dann hat es Geschichte: Das ist aber kein Rohstoff, sondern ein Gift. Es gibt Länder, in denen Historiker_innen ihre Nutzlosigkeit bedauern, und es gibt Länder, in denen sie so wichtig werden, dass sie mit Morddrohungen und mit einer Aufmerksamkeit verfolgt werden, die das Leben in den Schatten zu stellen droht. In Sarajevo trafen sich – eingeladen vom «Center for Nonviolent Action» – Historiker_innen und Friedensaktivist_innen aus Kroatien, Serbien, Bosnien und Österreich zu einem Dialogprozess. Welche Wege sollen eingeschlagen werden, damit sie in die Zukunft weisen, trotz der gemeinsamen mörderischen Vergangenheit? So könnte man das Thema zusammenfassen.

Ohne Hass sprechen, ohne Medikamente schlafen.

Sarajevo: Hier gibt es ein Café Habsburg, ein Café Franz Ferdinand und am Beginn der Fußgängerzone in Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und seine Opfer eine ewige Flamme als richtiges Feuer. Es gibt noch Hausmauern mit Einschüssen, es gibt Gedenktafeln, die von serbischen Kriminellen sprechen, die die Universität in Brand gesteckt haben und so zwei Millionen Bücher vernichtet. Hier gibt es weniger Frauen, die Kopftuch tragen, als in Österreich, zwei Museen über den Krieg, Hügel, die die Stadt umzingeln und von denen aus die Armee der bosnischen Serben Sarajevo beschossen hat. Weiße Flecken im Stadtbild markieren nicht weiße Flecken der Geschichte, sondern die Toten des letzten Krieges, spätestens ein Gang durch die weißen Grabmäler mit den beiden Säulen macht deutlich, dass hier in der Stadt zwischen 1992 und 1995 viel gestorben wurde.

Der Krieg mit Vertreibung, zehntausendfachem Tod, Folter und Genozid ist gerade 25 Jahre her, von Vergessen kann keine Spur sein, und doch gibt es Beispielloses in diesen «Bloodlands». Treffen von Kriegsteilnehmern aus Kroatien, Serbien, Bosnien, die über ihre Erlebnisse berichten in öffentlichen Veranstaltungen und gemeinsam die Orte des Mordens besuchen. Alleine die Präsenz bei offiziellen Gedenkfeiern dieser Veteranen verändert die Stimmung, es ist regelmäßig vorgekommen, dass die Anwesenheit dieser Veteranen dazu geführt hat, dass schnell die Reden geändert wurden, um Botschaften zu streichen, die den Hass schüren, die andere Gruppen denunzieren oder bleidigen würden. Manche Kriegsveteranen sagen, dass sie nach diesen Treffen zum ersten Mal ohne Medikamente schlafen konnten. Warum diese Organisation noch nicht den Friedensnobelpreis bekommen hat, ist eine berechtigte Frage.

Treffen von Kriegsveteranen, von ehemaligen Feinden, fanden bereits sieben Jahre nach dem Ende des Krieges statt. In Österreich gab es das nicht. Rechnen wir zurück, die Treffen hätten 1952 stattfinden müssen. Damals waren die Stammtische noch dicht besetzt. Sich derartige Treffen in Österreich vorzustellen, würde viel Fantasie bedürfen. Sie fanden nicht in den 60er-Jahren statt und auch nicht später.

Vom Dialogprozess auf die Straße.

Bereits die Vorstellungsrunde des Dialogprozesses im Hotel Bosnia macht klar, dass nicht nur Historiker_innen in der Defensive sind, sondern alle, die nicht nur in engen Schablonen denken können. Es geht ein Gespenst um in Europa, und das heißt Revisionismus. Die Wahrheit und die Wissenschaft spielen dabei keine große Rolle und helfen so wenig wie Knoblauch gegen Vampire. Selten habe ich so oft den Wunsch gehört, dass Historiker_innen Aktivist_innen werden müssen, der Wunsch nach Aktion, nach dem Ausbruch aus dem «Aquarium» wird laut: «Was nützen unsere Forschungen, wenn sie nicht gelesen werden, wenn sie keine Wirkung entfalten.» Mit der Geschichte auf die Straße gehen, ungewöhnliche Aktionen sind gefragt.

Bei diesem Dialogprozess treffen die Geschichtswissenschaftler_innen auch auf Aktivist_innen, auf jene, die nach vermissten Personen suchen, die mit dem Ergebnis des Krieges, der Kriege konfrontiert sind, in Form von Skeletten und Knochen, und irgendwo nach ihnen graben. Auch hier gibt es einen Kampf um die Erinnerung, ein Kampf um Schulen, um Straßen, doch da hinein mischen sich auch kritische Stimmen. «Wir kämpfen um den Namen der Schule, wir kämpfen aber nicht dafür, dass die Schulen innen besser ausgestattet sind, dass das Lernen dort auch tatsächlich funktionieren kann.»

Geschichtsmythen und Tabuthemen.

Ein Dialogprozess kann keine Antworten bringen, sondern den Weg zu Verständigung öffnen. «Ich habe gerne Recht, ich habe aber gelernt zu schweigen und zuzuhören, um offen zu sein für Empathie.» Nicht jedem gelingt dieser Schritt bereits. Vorschläge für weitere Vorhaben werden gesammelt. Vielleicht gibt es einen Verhaltenskodex für Historiker_innen, eine Zeitschrift für Geschichtsmythen, einen Index der Tabuthemen.

Die Forderung, den Revisionismus zu analysieren, bringt unerwartete Ergebnisse, denn es gibt den Wunsch und die Notwendigkeit nach einer Neubewertung der Geschichte, die Vertreibung der Deutschen nach 1945 wie auch die Gräueltaten der Partisan_innen gehören dazu. Ein Abschied von Mythen ist notwendig, um gewappnet zu sein für die vielen neuen Mythen, die gesponnen und konstruiert werden. Die Basis dafür sind auch die Zahlen und Statistiken von Toten und Vertriebenen. Jede Seite führt willkürlich ihre Buchhaltung und sieht sich im Recht und weiß die Toten hinter sich als Bestätigung. Heute werden die überlebenden Opfer instrumentalisiert und fordern Rache und Vergeltung, doch niemand traut sich darauf hinzuweisen, dass dies nicht angebracht ist. Auch Opfer dürfen nicht alles, doch wer sagt so etwas zum ersten Mal. Die Tabus der einen Seite sind das Narrativ der anderen Seite.

Meine Tränen, deine Tränen, unsere Tränen.

Keine Seite hat den Krieg begonnen, jeder hat sich nur verteidigt. Wann beginnt aber überhaupt ein Krieg? Wenn die Menschen eingestimmt werden, wenn die Waffen produziert werden oder erst wenn die erste Kugel fällt? Nach dem Krieg in dieser Region ist nichts gelöst, zwei Millionen Menschen sind vertrieben und das Denken in Ethnien hat Zukunft. Die Empathie wird gehütet wie ein Schatz. Meine Toten, deine Toten, meine Tränen, deine Tränen. In einem kleinen Park in der Tito-Straße, die bis heute diesen Namen trägt – selbstverständlich gibt es auch hier Initiativen für eine Umbenennung – wurde ein Denkmal für die Kinder des Krieges errichtet. Eine heftige Diskussion entwickelte sich um dieses Denkmal, da die Idee lanciert wurde, das Monument könnte doch an alle getöteten Kinder des Krieges zwischen 1992 und 1995 erinnern. Die Entscheidung war klar, das Denkmal ist nur den toten Kindern Sarajevos innerhalb des Belagerungsringes gewidmet. Und doch stellt diese Diskussion bereits einen Fortschritt dar, da die Vorstellung, dass Empathie unteilbar ist, noch nicht gänzlich ausgerottet wurde. Neben diesem Mahnmal steht die Figur eines jungen Mannes aus Bronze. Er ruft in einen imaginären Wald. Die Szene ist auch in einem Video festgehalten und zeigt wie ein Mann umgeben von serbischen Soldaten seine Mitkämpfer aufruft sich zu ergeben. Das Versprechen, verschont zu bleiben, erfüllte sich nicht. Hier wie in tausenden anderen Fällen auch.

Jetzt geht es wieder nur in kleinen Schritten Richtung Verständigung. Ein Dialogprozess ist zumindest ein notwendiger Beginn. Bei den Veranstaltungen des «Center for Nonviolent Action» ist die Trauer um die Toten der anderen Seite eine natürliche Sache.

Wie hat György Konrad einmal gemeint? «Zu viel Geschichte pro Quadratmeter.» Auf dem Balkan trifft das zu. Die Dichte von Geschichte pro Quadratmeter garantiert in einem Land ein Paradies für Tourist_innen; hier ist es eine Garantie fürs Sterben gewesen – bisher zumindest.