Ich habe nie das Kreuz getragentun & lassen

Wo man für Gerechtigkeit kämpfen muss, ist Karl Helmreich zur Stelle. Der «schwule Ordensmann und befreiungstheologische Hilfshackler» erzählt, warum er die Folgen der Coronakrise fürchtet und immer noch mehr Hoffnung in den Papst als in die Grünen setzt.
Text: Robert Sommer, Foto: Lisbeth Kovačič

Ich glaube, es war der Lieblingsphilosoph aller der Philosophie abgeneigten Menschen, Peter Sloterdijk, der sinngemäß gesagt hat: Wenn die Medien monothematisch werden, riecht es nach Faschismus. Beispiel: Wenn es laut Medien außerhalb von Corona nichts Berichtenswertes mehr gibt, ist Feuer am Dach. Wie kann alternative Publizistik gegensteuern? Sie wendet sich einem Menschen zu, dessen Neugier das Festkleben am «Hauptthema» nicht zulässt; einem universalaktivistischen Generalpraktiker, der – vorausgesetzt, es geht um Gerechtigkeit – alles zu seiner Angelegenheit macht, was den Begriff Angelegenheit verdient. Karl Helmreich, der Benediktiner aus dem Stift Melk, ist so ein Mensch. «Gott hat mich so gewollt, wie ich bin: ein schwuler Ordensmann, der das Zölibat verdammt, ein Mönch, den kein Kloster reizt, ein Pendler zwischen Melk und Hirtenberg und ein der Befreiungstheologie zugetaner Hilfshackler.»

Beten und hackeln gehn.

«Ora et labora» ist bekanntlich die benediktinische Lebensdevise: Bete und geh hackeln, aber das ist verkürzt, im vollen Wortlaut heißt der Imperativ: Bete, arbeite und lies ein Buch. Benediktiner sollten daher die Corona-Quarantäne besser ertragen. Dass nun erst recht wieder das Virus zum Thema wird, und das gleich am Anfang, dafür muss sich niemand entschuldigen. Außer dem Autor. Dieser wollte nämlich von Helmreich gleich wissen, ob er in der seriösen Sorge der Regierungen vor der Ausbreitung der Pandemie nicht auch das Gegenteil versteckt sehe, nämlich Momente eines Klassenkampfs (von oben). Helmreich stimmt zu: «Meine größte Angst betrifft das Nachher. Es wird wirtschaftlich unglaubliche Folgen haben und die reichen Länder werden gnadenlos versuchen, ihre Standards auf Kosten der Schwächeren und Armen zu sichern, durch kalte Erpressung und notfalls mit Waffen. Die Zahl der Opfer wird größer sein als die der Pandemieopfer. Ich habe kein Vertrauen, dass die Krise zum Anlass einer Neuorientierung des gesamten Wirtschaftssystems wird.»

Die Autonomie des Körpers.

«Beim vielen Reden wirst du der Sünde nicht entgehen», heißt es im Kapitel 6 des Regelwerks des Benediktinerordens; der gute Mönch solle «der Schweigsamkeit zuliebe bisweilen sogar auf gute Gespräche verzichten». Als wir den Ordensmann in seiner mit Büchern und Ordnern vollgestopften kleinen Wohnung in Hirtenberg bei Wiener Neustadt besuchten, blieb er, wie erwartet, alles andere als stumm. Am schwersten hatte der Melker Mönch – nach historischen Kriterien – gesündigt, als er nicht mehr schweigen wollte über seine Homosexualität. Helmreich, Jahrgang 1939, ist eines der Gründungsmitglieder der Wiener NGO «Homosexualität und Glaube». Als er sich 1992 mit einem damals evangelischen Geistlichen öffentlich in einem Magazin outete, gab es gehörige Aufregung im Benediktinerorden. «Man wollte mir mein Versprechen abringen, mich nie mehr öffentlich zu äußern. Natürlich konnte ich dem nicht zustimmen. Das wäre mir als Verrat an all jenen erschienen, die sich in unserer katholischen Kirche bedeckt halten mussten und müssen. Ich habe das Schweigeverbot ignoriert und ziemlich viel publiziert.»
Was die Unterdrückung menschlicher Sexualität betrifft, ist die Kirche in «guter» Gesellschaft. Zusammen mit anderen sogenannten «totalen Institutionen» wie Gefängnis, Psychiatrie, Internat und Kloster hasst sie nichts mehr als die Autonomie des Körpers. Als Karl Helmreich vor sechzehn Jahren begann, Häftlinge in Sonderhaftanstalten zu begleiten, wurde ihm bald klar, dass die Kategorie «geistig abnorme Rechtsbrecher» eine raffiniert angelegte Konstruktion ist, die den Staat legitimiert, Menschen mit psychischen Problemen buchstäblich in den Knästen verrecken zu lassen. Helmreichs «Mission» ist, das Bewusstsein dafür zu schärfen, dass solche Menschen im Gefängnis absolut deplatziert sind: «Wir reden von Menschen, die nie tiefere Beziehungen kennengelernt haben oder die in ihrer sexuellen Sozialisation Probleme hatten, die nun in Form von sexualisierter Gewalt virulent werden.» Über immer mehr solcher Außenseiter_innen wird der sogenannte Maßnahmenvollzug verhängt. Ihre Anhaltezeiten werden immer länger, völlig unabhängig von der Strafhöhe der Delikte, wegen der sie hinter Gittern sind. Maßnahmenvollzug sei immer psychische Folter, weil die Betroffenen – von einem negativen Gutachten zum anderen – in der Ungewissheit leben, ob sie noch zwei Jahre oder zehn Jahre sitzen müssen.
Helmreich unterstützt die Nichtregierungsorganisation SIM (Selbst- und Interessensvertretung im Maßnahmenvollzug), um diese aktuell barbarischste Form des Wegsperrens zu Fall zu bringen. Als bekannt wurde, dass das Justizministerium den Grünen zugeordnet wird, keimte Hoffnung unter den Menschenrechtsaktivist_innen auf. Aber auch unter der grünen Justizministerin Alma Zadić bleibt das Hausverbot Helmreichs für die Justizanstalt Mittersteig im 5. Wiener Bezirk aufrecht, nachdem der «Maßnahme»-Kritiker dort auf viele Insassen gestoßen war, die über ihre Einsperrungsdauer völlig uninformiert waren. Seit dem Besuchsverbot sind dort 13 Gefangene unbetreut, klagt Helmreich.

Heilige, die in die Hölle gingen.

Auch mit der anderen Partei, deren historische Programmatik einen Fokus auf die Humanisierung des Gefängnisses zuließe, hadert unser niederösterreichischer All-inclusive-Rebell. Es geht um eine Verordnung, die die Grenzen zwischen reaktionärer und sozialdemokratischer Rechtsphilosophie verschwimmen lässt. Noch unter Bürgermeister Häupl verfasste er mit Mitkämpfer_innen eine Petition, in der die Bestimmung verurteilt wurde, dass vorbestrafte Menschen nicht in den Dienst der Gemeinde aufgenommen werden dürfen.
Die acht Jahre der Betriebsseelsorge – für unseren Protagonisten keine Tätigkeit im kirchlichen Sinn dieses Wortes – bilden für mich den exotischsten Strang seines Lebenslaufes. Tatsächlich hatte Helmreich die Tradition der französischen Arbeiterpriester im Auge, die in den 1950er-Jahren liebevoll bis feindselig-ironisch als «Heilige, die in die Hölle gingen» betitelt wurden. Mit dem persönlichen Eintauchen ins Proletariat wurde eine existenzielle Wende in Kauf genommen. «Die Hölle», das sollte für den Benediktinermönch zunächst die Hilfsarbeit im Möllersdorfer Industriegusswerk werden. Niemand hatte ihn gewarnt, dass man hier unter anderem auch Granaten fabriziert. Das kann man einem mit allen Weihwassern gewaschenen katholischen Pazifisten nicht antun. Der wusste längst zwischen guter und falscher Arbeit zu unterscheiden, verließ die Granaten und heuerte in der Kabelfabrik in Günsersdorf an. Akzeptiert als Kumpel und unterstützt durch den ÖGB wurde Helmreich Betriebsratsobmann. Als solcher hatte er das Recht, freigestellt zu werden; doch er arbeitete weiter, um den Draht zu den Arbeiter_innen nicht zu verlieren.
Im relativ freien Melker Klima (die Ächtung von Homosexualität geht ja von Rom, von St. Pölten und von Wien aus) kann Karl Helmreich seine Abneigung zum Liturgischen der katholischen Welt vor sich hertragen. Lächelnd erzählt er über einen Ordensbruder, der das coronabedingte Verbot der täglichen Morgenmesse vor dem Frühstück physisch nicht verkraftete. Er macht die Messe ohne Publikum und stellt sie regelmäßig ins Netz. Helmreich amüsiert sich über den Gegenvorschlag, seinen morgendlichen Genuss von Häferlkaffee als Zeichen der Diversifizierung benediktinischer Regeln ebenfalls online zu stellen. Beim Häferlkaffee braucht man nicht selber zu beten: Jeder Schluck ist ein Prost auf den Himmel auf Erden. Bei provinzkatholischen Prozessionen mit dem Führungskreuz in exponierter Lage voranzuschreiten wie ein Fremdenführer mit dem Gruppenidentität schaffenden Erkennungsregenschirm, davor wusste er sich stets zu drücken.

Unwählbare Demokratie.

Der aktuelle Papst ist für Helmreich immer noch Hoffnungsträger. Das progressivste Happening des anfangs noch Unverbrauchten war für Helmreich die provokante Einquartierung im Gästehaus des Vatikans nach der Weigerung, die vatikanischen Herrschaftsgemächer zu okkupieren. Inhaltlich bemerkenswerter war für Helmreich das Welttreffen der sozialen Bewegungen 2014 in Rom. Man könne das als Hinwendung der Kirche zur Zivilgesellschaft, weg vom Staat, interpretieren. Als Laie in der Disziplin der Staatstheorie drängt sich mir eine Frage auf. Ist die Kirche denn nicht selbst Teil der Zivilgesellschaft?
Helmreich bricht in ein herzhaftes Gelächter aus. «Das ist die Frage des Tages», sagt er: «Ich werde mich für dich erkundigen, wo wir die Kirche lokalisieren können.» Leider sei im Jahr 1965 ein Diskurs, der sich um den «Katakombenschwur der 40 Bischöfe» aus aller Welt entwickelt hatte, im Sande des Opportunismus verlaufen. Nie erreichte die Selbstkritik einer politischen Klasse die reflexive Qualität dieser Führer des Katholizismus: «Wir werden uns bemühen, so zu leben, wie die Menschen um uns leben, im Hinblick auf Wohnung, Essen, Verkehrsmittel und alles, was sich daraus ergibt.»
Hätte ich den Auftrag, Karl Helmreich zu porträtieren, zwei Jahre früher bekommen, wäre der Ordensbruder aus Melk noch tief in die Flüchtlingsarbeit verstrickt gewesen. Der Schwerpunkt lag im Kosovo, wo der Niederösterreicher mit seinen Projekten u. a. die Minderheit der Ashkali unterstützte. Die Flüchtlings-Agenda hat unterdessen die politische Persönlichkeit des benediktinischen Quergeistes in zwei Lager zerrissen. Einerseits weiß Helmreich, dass es keine Alternative zu einer parlamentarischen Demokratie gibt. Andrerseits wäre es dann seine Pflicht, seine Stimme in die Wahlurne zu versenken. Doch als Teil einer Regierung, die nicht einmal bereit ist, zehn Kinder aus der Hölle von Lesbos auf den Himmel bei Grinzing zu bringen, sind die Grünen für Helmreich unwählbar geworden. In dem Moment, in dem er zum Kreuzerl ansetzt, würde ihm sein gerechter Gott die Finger lähmen.