Lokalmatador
Eric Sanders kann sich noch gut erinnern: Wie ihm die Nazis sein Kostbarstes geraubt haben. Von Uwe Mauch (Text) und Mario Lang (Foto).Wenn Eric Sanders am Theater an der Wien vorbeikommt, spürt er wieder dieses Gefühl, das er als Mischung aus Trauer, Wut und Enttäuschung beschreibt: «Ich habe Hitler nicht so sehr gehasst, weil ich aus meiner Heimat rausgeworfen wurde. Ich habe ihn mehr dafür gehasst, weil er mir die Musik geraubt hat.»
Zuletzt kam der Zeitzeuge im November des Vorjahrs am Theater in der Linken Wienzeile vorbei. Da weilte er wieder einmal in seiner Heimatstadt – auch, um bei einer Veranstaltung der Österreichischen Gesellschaft für Exilforschung aus seinem ereignisreichen Leben zu erzählen.
Eric Sanders, vor 98 Jahren als Ignaz Schwarz in Wien geboren, von seinen Eltern Erich gerufen und von seiner Family in London Eric, ist ein großer Sohn dieser Stadt. Er ist zudem einer der letzten Zeitzeug_innen, die sich noch an die Machtergreifung der Nazis in Wien erinnern können. Es war daher ein Geschenk, ihm eine Stunde lang Fragen stellen zu dürfen.
12. Dezember 1919? «Mein Geburtsdatum. Das werde ich bis zu meinem Tod nicht vergessen», sagt Sanders. Und mit einer ihm eigenen Selbstironie fügt er hinzu: «Naja, ist ja auch nicht ganz so schwer.»
Kindheit? Verbringt der Sohn einer jüdischen Greißlerfamilie im Westen von Wien. Gut erinnern kann er sich noch an das Fußballspielen im Schönbrunner Vorpark: «Da habe ich mir öfters blutige Knie geholt.» Auch im Hietzinger Strandbad scheint die Welt für ihn und seinen um zwei Jahre jüngeren Bruder Fredi noch heil zu sein.
Schule? Von seinen mäßigen Schulerfolgen in der Goethe-Realschule erzählt er mit Amüsement. «Die fünfte und auch die siebente Klasse musste ich dort wiederholen.»
Die Kunst? Seine Leidenschaft für die Musik wird – beinahe – belohnt: «Ich habe ein Stück für das Theater an der Wien geschrieben und dazu auch drei Schlager komponiert.» Alles ist schon ausgemacht, das Vertragliche, der Abgabetermin, ein neuer Stern scheint am Wiener Künstlerhimmel aufzugehen. «Doch das haben dann die Nazis nicht zugelassen.»
Fluchterfahrungen? So wie die minderjährigen unbegleiteten Flüchtlinge heute muss er als 18-Jähriger seine Heimat verlassen. An die größte Zäsur in seinem Leben kann er sich noch gut erinnern: In London wird aus Erich Schwarz ein Eric Sanders. Obwohl er passabel Englisch spricht, ist das Ankommen für ihn ein Horror: «Meine Tante trug mir auf, dass ich dem conductor im Bus den Namen der Ausstiegsstelle nennen soll. He will drop you off. Ich verstand damals nicht, warum mich der Schaffner aus dem Autobus fallen lassen würde.»
Immerhin schaffen auch seine Mutter und sein Vater die Flucht nach England. Außerdem darf er in London eine Handelsschule besuchen. Was den Zeitzeugen zu der Feststellung veranlasst: «Die Flüchtlinge heute sind viel schlechter dran als ich damals.»
Wien? Der Zeitzeuge erzählt: «Eines der ersten Lieder, die ich in London komponiert habe, war über Wien.» Er spricht in diesem Zusammenhang von einem «geografischen» Heimweh: «Mit manchen Menschen in Wien ist mir die Versöhnung bis heute nicht gelungen.» Etwa mit jenem Mariahilfer Hausmeister, der ihn nach dem Krieg eiskalt auslacht, als er fragt, wo das Fahrrad seines Cousins geblieben ist.
Der Krieg? Bald nach dem ersten deutschen Luftangriff auf London meldet sich Eric Sanders bei der British Army, aus tiefer Überzeugung: «Ich wollte etwas gegen Hitler tun. Ich glaube auch, dass ich so etwas wie Hass in mir verspürte.» Seine Emotion ist größer als sein Ego: «Als Bub war ich ein Feigling. Bis zur zweiten Klasse habe ich nicht zurückgehaut.»
Angst? Nicht nur Feiglinge haben Angst: «Ich erinnere mich, dass wir im französischen Rennes festsaßen und die deutschen Panzer immer näher auf uns zukamen.» Über die Niedergeschlagenheit in den Gesichtern der Soldaten macht sich die Zivilbevölkerung lustig: «Seht mal, diese Engländer. Sind gekommen, um uns zu retten. Und im Bett sind sie auch nicht gut.»
Das Kriegsende? Davon erfährt Eric Sanders in Italien, in der Gegend um Siena: «Zunächst war ich enttäuscht. Denn wir warteten seit Wochen auf das Signal für unseren Fallschirm-Absprung über dem Feindesland, über Österreich.» Dass dieses Signal nicht kommen kann, weil sein Freund und Landsmann Friedrich Berliner von der SS festgenommen und ermordet wird, davon soll er erst später erfahren. Am selben Abend erklärt ihm ein väterlicher Freund, der Sozialwissenschafter Theo Neumann, in den 1930er-Jahren Mitarbeiter von Marie Jahoda und Paul Lazarsfeld: «Ich habe deiner Mutter versprochen, dass ich auf dich Acht gebe. Jetzt hast du den Krieg überlebt.»
Was genau geht ihm da durch den Kopf? «Ich muss sagen, ich habe triumphiert.»
Und heute? Im Juni 2005 hat Eric Sanders in jener Schule, aus der ihn die Nazi-Schergen rausgeworfen haben, eine Gedenktafel enthüllt. Wann immer er in Wien ist, besucht er das Gymnasium in der Astgasse in Penzing, um den Schüler_innen aus seinem Leben zu erzählen. Dafür wurde er auch schon vom Stadtschulrat geehrt. Und wenn alles gut geht, fliegt er im März wieder nach Wien. Und beantragt einen österreichischen Pass. Vom Brexit hält er nämlich nicht viel.