Thomas Ettl hat den Praterkasperl am Leben erhalten. Die Kinder wissen das zu schätzen.
Der Kasperl und das Krokodil kosten Kraft – in der Armmuskulatur. Minutenlang hält der Puppenspieler zwei zentrale Figuren der Wiener Theatergeschichte über seinen Kopf: In seiner Linken das Krokodil, in seiner Rechten den Kasperl. Und weil das beim «Original Wiener Praterkasperl» Tradition ist und von den Kindern heute wie damals heftig akklamiert wird (zum Schrecken der Pädagog_innen), zieht er dem Krokodil mit seiner Rechten bzw. mit dem Pracker vom Kasperl öfters eine drüber.
Von Uwe Mauch (Text) und Mario Lang (Foto)
Apropos Tradition: Die Prater Wien GmbH feiert heuer das 250-jährige Bestehen des Praters. Rund um dieses Jubiläum will man ordentlich die Kassen klingeln lassen. Einer wesentlichen Figur, dem Namensvetter des Wurstelpraters, wurde dabei nur eine Nebenrolle zugedacht. Dabei spielte der Kasperl im «Wurstel Theater» für Generationen von Kindern die Hauptrolle.
«Wir sind das letzte Kasperltheater im Prater», betont Thomas Ettl, der dem Kasperl und dem Krokodil Arme und Stimme verleiht. Vor der sonntäglichen Vorstellung gewährt er uns einen Blick hinter die Kulissen.
Eine halbe Stunde vor der Vorstellung kommt Leben in das charmant eingerichtete Puppentheater am Wurstelplatz Nr. 1, nur wenige Schritte vom Schweizerhaus entfernt. Da öffnet der Puppenspieler die Eingangstür. Er kommt damit jenen Kindern entgegen, die mit großen Erwartungen ihre Nasen an das Glas der Eingangstür drücken.
Er selbst nimmt an der Kassa Platz. Der Eintrittspreis zu einer Kasperl-Vorstellung wird jährlich an den inoffiziellen Index der Prater-Inflation angepasst: «Wir richten uns nach dem Krügerl-Preis im Schweizerhaus.» Der beträgt derzeit recht unverschämte 4,50 Euro.
Allmählich füllt sich das kleine Kasperltheater mit seinen 66 kommissionierten Sitzplätzen. Es treten ein: Groß und Klein, Alt und Jung, Kinder, Eltern, Großeltern. Das Publikum ist zwischen zwei und 90 Jahre jung.
Punkt 15 Uhr verschließt der Mann an der Kassa die Kassa und die Eingangstür – und eilt zu seiner Kollegin hinter der Bühne. Teurer Spaß! Lautet der Titel der heutigen Vorstellung. Er könnte auch anders lauten. Denn der Kasperl ist Generationen übergreifend eine Identifikations- und Integrationsfigur. Wenn die Arme der Puppenspieler in die Höhe gehen, leuchten unzählige Kinderaugen im Dunklen.
Thomas Ettl hat alles im Griff. Kasperl, Krokodil, auch seine Stimme, die via Lautsprecher zum Publikum dringt. Er lernte sein Handwerk von einem Doyen der Wiener Puppenspiel-Szene, von Klaus Behrend im Theater der Jugend. Mit dem Puppenspiel hat er sich seinerzeit sein Studium der Publizistik- und Theaterwissenschaft finanziert. Er spielte nicht nur im Theater der Jugend, sondern auch für den Kasperl im Fernsehen, dazu etliche historische Aufführungen im Theatermuseum.
Zuletzt mimte er im Rabenhof große Kasperln, sozialdemokratische Realkasperln. Für die Stimmakrobaten der Kabaretttruppe «maschek» bewegte er die Genossen Faymann und Gusenbauer über die Bühne.
Das Schöne an seiner Arbeit beschreibt der Puppenspieler so: «Würden wir die Kinder fadisieren, würden sie einfach aufstehen und gehen. Das kommt bei uns aber nicht vor.»
Ganz im Gegenteil: Wenn sich das Krokodil von hinten anschleicht oder der Teufel aus einem Hinterhalt agieren will, reagiert die heutige Generation «Unter 10» wie alle vorangegangenen Generationen: Die Kinder warnen ihren Helden mit lautstarken «Kasperl!»-Zwischenrufen. Manch ein Aufgeregter erteilt sogar gut gemeinte Ratschläge: «Kasperl, du musst den Teufel umzingeln!»
Doch auch für die Erwachsenen hat der Kasperl immer ein Bonmot parat. Auf die Frage seiner braven Mitstreiter, wie er denn mit dem bösen Krokodil verfahren ist, antwortet er in der Manier eines rotzfrechen österreichischen Außenministers: «Ich hab’s integriert.»
Schön ist in jedem Fall, dass Thomas Ettl und seine kongeniale Partnerin Elis Veit im Prater ein Stück Alt-Wien am Leben erhalten. Denn um das letzte Praterkasperltheater kreisten bereits die Abbruchgeier. Der Kasperl war damals, im Jahr 1993, klinisch tot.
Beide erinnert diese Figur an ihre Kindheit. Als es noch keine Smartphones gab, keine Computer, noch nicht einmal einen Fernseher in jedem Haushalt. Der Kasperl eröffnete einer ganzen Generation ein neues Medium. Mittwoch, 17 Uhr war lange Zeit ihr einziger Pflichttermin. Viel mehr hatte der Österreichische Rundfunk für Kinder nicht zu bieten. Der Konsum von bewegten Bildern war damals auch noch mehr eine Gemeinschaftserfahrung. Acht, neun Kinder vor einem Schwarz-Weiß-TV-Gerät waren keine Seltenheit.
Am Ende behält auch heute das Gute die Oberhand: der Kasperl und seine Kolleg_innen. Und die Kinder dürfen den Guten die Hand schütteln.
Happy End? Auf dem Nachhauseweg geht es über den Prater-Platz beim Riesenrad. Die moderne Szenerie wurde mit den Millionen der Wiener Steuerzahler_innen hochgezogen und hat den Charme eines Potemkin’schen Dorfs. Die Stadt Wien, ein Kasperltheater für Erwachsene. Mit dem großen Unterschied, dass deren Welt anders funktioniert als die vom Praterkasperl. Selten gewinnen die Guten.
Infos: www.praterkasperl.com