«Ich muss ständig über meine ungewisse Situation nachdenken»tun & lassen

Alltag. ­Immer wieder machen ­zermürbende Asylverfahren und ­drohende Abschiebung unseren Kolleg_innen, die den ­AUGUSTIN
verkaufen, das Leben schwer. ­Text: Christof Mackinger, Foto: DIE IDA

«In meinem Fall haben schon alle Behörden des Landes entschieden», erzählt Fabian N. belustigt. Er kramt im vor ihm liegenden Stapel mit Schriftstücken der letzten 16 Jahre: «Asylgerichtshof, Bundesasylamt, Bundesverwaltungsgericht, Verfassungsgerichtshof, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Volksanwaltschaft …» Heute nimmt er das «Behörden-Pingpong», wie er es nennt, mit Humor. Doch oft belastet den Augustin-Verkäufer sein Asylverfahren: «Manchmal kann ich nicht schlafen. Ich muss ständig über meine ungewisse Situation nachdenken.» Und das seit 16 Jahren.
Noch schwieriger ist die Lage für Jude O.* Nach neun Jahren in Österreich wurde sein Asylantrag abgelehnt. Ihm droht akut die Abschiebung nach Nigeria. Erst vor einer Woche wurde er aus der Schubhaft entlassen, weil die Behörden kein Rückreisezertifikat besorgen konnten. «I am a lucky man», strahlt O. übers ganze Gesicht. Doch auch O.s Zukunft bleibt ungewiss.

Behörden-Pingpong.

Fabian N. lebte bis 2003 mit seiner Familie im Nigerdelta im südlichen Nigeria. Dort wird seit Jahrzehnten von Shell, ExxonMobil und ­Total Erdöl gefördert. Die Aktivitäten der westlichen Unternehmen zogen Landkonflikte und massive Umweltzerstörung nach sich. Auch in Fabian N.s Ortschaft spitzten sich die Konflikte zu und führten zur Ermordung seiner Eltern und seiner Schwester. N. selbst wurde bei dem Angriff einer benachbarten Gemeinschaft verletzt. Er floh nach Österreich, wo er am 7. November 2003 seinen Asylantrag stellte. Damals war er 23 Jahre alt. Wenig später hat er begonnen, den Augustin zu verkaufen.
Inzwischen ist er 38 und verkauft die Straßenzeitung immer noch, bei der U3-Station Herrengasse. Auf ein rechtskräftiges Urteil wartet er noch heute. Sein Verfahren überdauerte sogar die Existenz so mancher Behörde: Zwischen 2005 und 2012 wurde N.s Asylantrag gleich zwei Mal vom Bundesasylamt abgelehnt. Der erste negative Bescheid wurde vom Unabhängigen Bundesasylsenat aufgehoben, der zweite von seiner Nachfolgebehörde, dem Asylgerichtshof. Dafür wurde auch in Nigeria nachgeprüft, ob N.s Angaben zur Flucht stimmen würden. «Wir bestätigen die bedauerliche Tötung der Familie N.», heißt es in einer Stellungnahme inmitten Fabian N.s Papierstapel. Trotzdem wird sein Asylantrag erneut abgelehnt. Im September 2014 wird die Entscheidung vom Bundesverwaltungsgericht (BVwG), mittlerweile zweite Instanz im Asylverfahren, wieder gekippt. Nach der dritten Aufhebung des negativen Asylbescheids ist die erste Instanz ein viertes Mal am Zug. Mittlerweile wurde sie umbenannt in Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl.

Wartezeiten.

In den letzten Jahren gab es immer wieder Änderungen im Bereich der Asylverfahren, wie Anny Knapp, Obfrau des Vereins Asylkoordination Österreich bestätigt: «Anfangs haben wir für die Berufungsinstanz den Unabhängigen Bundesasylsenat bekommen, dann den Asylgerichtshof und später das Bundesverwaltungsgericht.» Alle von ihnen richteten schon über Fabian N.s Schicksal. Anny Knapp ist seit vielen Jahren im Asylbereich tätig, sie gilt als ausgewiesene Expertin. Dass Verfahren langwierig sind, liege am Weg durch die Instanzen. «In der ersten Instanz gibt es heute aber kaum mehr längere Wartezeiten.» Verfahrensrückstand gäbe es eher in zweiter Instanz, erklärt Knapp. Der Statistik des Innenministeriums zufolge warten derzeit rund 30.000 Verfahren beim BVwG auf eine Entscheidung.
Jude O. musste ganze neun Jahre warten. Er kam als 18-Jähriger nach Österreich, auch er verkauft den Augustin. Jetzt haben Gerichte entschieden, er soll abgeschoben werden. Die letzten vier Monate saß O. in Schubhaft. Dort traf er einen weiteren Augustin-Verkäufer, Charlton T.* Der sieht aktuell ebenfalls seiner Abschiebung entgegen.
Für Jude O. konnten keine Rückreisepapiere nach Nigeria organisiert werden, weshalb er Ende Juni entlassen werden musste. Nigeria gehört zu den Ländern, in die (aus Österreich) am öftesten abgeschoben wird. Schon vor zehn Jahren änderte sich die Situation für asylwerbende Nigerianer_innen in Österreich. Journalistin Clara Akinyosoye berichtete damals in der Presse (4. 5. 2010, online): Der nigerianische Botschafter in Wien habe sich oft geweigert, Heimreisezertifikate für abgelehnte Asylwerber_innen zu unterschreiben. Nachdem Michael Spindelegger, damaliger Außenminister Österreichs, im Juni 2009 einen Beschwerde-Brief an den nigerianischen Außenminister verfasst hatte, änderte sich die Lage, die Zahl der Abschiebungen schnellte nach oben.
Dem mittlerweile 28-jährigen Jude O. ist Wien ans Herz gewachsen. «Ich wüsste nicht, wohin ich soll. Ich bin hier zu Hause», erzählt der junge Mann, der immerhin sein gesamtes Erwachsenenleben in Wien verbracht hat. Die jahrelange Ungewissheit beschreibt er als «Stress, you know!» Jeden Tag kann seine Festnahme für die Abschiebung erfolgen. O. aber ist hoffnungsvoll: «God will help me!»

Zermürbendes Verfahren.

Im April 2015, nach zwölf Jahren in Österreich, kommt Fabian N.s Tochter zur Welt. Sein Anwalt, Edward W. Daigneault, drängt auf eine Entscheidung. Im Herbst 2017 lehnt das BVwG N.s Asylantrag erneut ab. Ihm wird eine «Fortsetzung des Familienlebens in der Slowakei» nahegelegt, wo Frau und Tochter geboren sind. Im März 2018 hebt der Verfassungsgerichtshof den Entscheid wieder auf und spielt den Ball zurück an das BVwG, welches innerhalb von zwölf Monaten entscheiden muss.
Heute, eineinhalb Jahre später, liegt noch immer kein Entscheid vor. N. lebt mittlerweile seit 16 Jahren in Österreich, ist in einer Beziehung, hat ein Kind, spricht deutsch und arbeitet seit fünf Jahren ehrenamtlich im Vinzimarkt. Dennoch ist sein Aufenthalt nicht gesichert, weshalb ihm auch der Arbeitsmarkt verwehrt bleibt. Er schlägt sich mit Computerreparaturen und Augustin-Verkauf durch. Anwalt Daigneault hält das Asylverfahren seines Klienten für außergewöhnlich, insbesondere, da sein Motiv zur Flucht behördlich bestätigt wurde. «Es sprach nichts dagegen, Herrn N. spätestens 2012 Asyl zu gewähren», so der Wiener Rechtsvertreter. Für Fabian N. ist das Asylverfahren zwar zermürbend, er bleibt jedoch positiv. In erster Linien aber bleibt er genügsam: «Ich finde nicht, dass jeder in Österreich bleiben muss. Nicht mal ich. Aber wenn man Leute hier nicht haben will, dann sollte es eine schnelle Entscheidung dazu geben.»
Nur zwei Prozent. Das Ergebnis solcher Entscheidungen ist in vielen Fällen aber alles andere als wünschenswert. Das weiß auch Augustin-Sozialarbeiter Andreas Hennefeld: «Spontan fallen mir drei unserer Verkäufer_innen ein, die im letzten Jahr nach Nigeria abgeschoben wurden.» Erst unlängst wurde gemeinsam mit einem neuen Verkäufer ein Standplatz gesucht. «Eine Woche später haben ihm die Behörden angeordnet, dass er Österreich verlassen müsse», erzählt Hennefeld. Gerade nigerianische Asylwerber_innen haben bei den Behörden schlechte Karten. 2018 wurden nur zwei Prozent aller Asylanträge nigerianischer Staatsbürger_innen positiv entschieden, ganze 1070 wurden abgelehnt.
Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl sei Druck durch Ministerien und politischen Parteien ausgesetzt, so Anny Knapp von der Asylkoordination, auch hinsichtlich der Dauer der Verfahren. Zwar wünsche auch sie sich eine effiziente Abwicklung, «aber ohne faire Verfahren zu gefährden», betont die Expertin. Mindestens genauso wichtig sei es, Menschen bis zur Entscheidung eine Möglichkeit zu geben, legal zu arbeiten. «Ansonsten lassen Betroffene die Hoffnung fallen und werden depressiv», erzählt Knapp aus der Erfahrung.

Rechtliche Unterstützung.

Fabian N., Jude O. und Charlton T. aber haben die Hoffnung noch nicht aufgegeben. Sie wollen ihr in Österreich aufgebautes Leben fortsetzen, mit sicherem Aufenthaltsstatus. Da immer wieder Kolleg_innen von Abschiebung bedroht sind, plädiert Sozialarbeiter Hennefeld für Wachsamkeit unter den Unterstützer_innen. Menschen sollen sich beim Augustin melden, wenn Zeitungsverkäufer_innen von der Polizei mitgenommen werden. «Oder wenn sie nach Jahren von ihrem Standplatz einfach verschwinden», so Hennefeld. Dann könnten die Sozialarbeiter_innen rechtliche Hilfe organisieren. Wie im Fall von Charlton T. Der Augustin-Verläufer sitzt mittlerweile seit zwei Monaten in Schubhaft. Trotz rechtlicher Unterstützung durch die Deserteurs- und Flüchtlingsberatung konnte seine Freilassung nicht erreicht werden. «Noch nicht», wie Hennefeld hinzufügt.

* Name von der Redaktion geändert