«Ich nichts Zappzarapp machen!»Dichter Innenteil

Auch Bettler und Straßenmusiker haben ihren Stolz. Ein Bettler-Blues aufs Schlaraffenland.

Friedlich sitzt der alte Mann mit der hohen Russenmütze auf einem Bankerl beim Westbahnhof. Neben ihm steht sein Akkordeon. Drei junge, eifrige Polizisten umrunden ihn: «Personenkontrolle!» Und zu einem Zuschauer: «Nein, wir haben jetzt gerade nichts Besseres zu tun.» Laut Funk-Auskünften liegt aber keine Anzeige gegen den Bulgaren vor. In Österreich sein darf er auch. EU-Ausland. Schlaraffenland, in dem einem gebratene Tauben in den Mund fliegen.«Er braucht eine Platzkarte, um hier zu spielen», behauptet der Polizist. «Für den Westbahnhof braucht man keine Platzkarte zu bezahlen, nur für den ersten Wiener Gemeindebezirk», sage ich. Der Polizist gibt zu, dass er selber vom ersten Bezirk entlehnt ist. Die Polizisten überlegen ernsthaft, ob der Straßenmusiker im siebten oder im 15. Bezirk sitzt, das Bankerl vor der Station scheint genau auf der Grenze zu liegen. Sie sind auf der Suche nach einer Strafmöglichkeit. Tauben und Kapaunen, Gänse und Truthähne, Lerchen und Krammetsvögel … «Ich stehle nicht», ruft der alte Mann in seiner Sprache. Übersetzung: «Ich nichts Zappzarapp machen!» Dabei haut er sich mehrmals stolz auf die Brust. Die Polizisten lächeln freundlich. Der Bulgare regt sich immer mehr auf. «Operatijo! Operatijo!» ruft er und donnert sich mit seinem Holz-Krückstock gegen die Stirn, das es schon vom Zusehen wehtut. Wie auf ein unsichtbares Kommando verschwinden die drei Polizisten schleunigst von der Bildfläche.

Szenenwechsel: Der alte Bettler sitzt wie ein begossener Pudel in seinem Rollstuhl. Wie ein Kind, das bestraft wurde und sich schuldig ob seiner simplen Existenz fühlt, sieht er aus. «Diese Frau!» ruft er und breitet die Hände aus. Eine einzige Mitarbeiterin der Wiener Linien macht ihm seit kurzem das Leben zur Hölle. Sie lässt den alten Mann, der seit drei Jahren friedlich in seinem Rollstuhl täglich ein paar Euros zusammenklaubt, und hauptsächlich Zigaretten schnorrt, nicht unter dem Dach der Krankenhaus-Passage sitzen, sondern zwingt ihn, sich zwei Meter weiter in Regen und Sturm auf der Brücke zum Park hinüber zu installieren. Dabei endet die Zuständigkeit der Wiener Linien bei den blauen Fahrkarten-Automaten. Alles davor gehört der Stadt Wien, ist öffentlicher Grund. Menschenmassen strömen hier täglich vorbei. Auch der türkische Security des Krankenhauses kontrolliert nur seine Seite der Passage. Die Wiener Linien-Dame fährt mit den klassischen Mafia-Klischees auf: «Der wird abends von einem schwarzen Mercedes abgeholt! Junge Männer kassieren mehrmals täglich das Geld ab!» Die paar Kupfermünzen? Egal: Selbst wenn der Bettler ein alter Mafia-Boss wäre und Millionen verschieben würde über seine Pizzeria-Kette, seine Bodyguards von allen Lokalen rund ums Krankenhaus Schutzgeld erpressen – deswegen darf man trotzdem keinen alten Mann mitsamt Rollstuhl auf eine Brücke in den Regen stellen. Oder will sie sein leibliches Ende beschleunigen? Wie unmenschlich muss man sein, wie verhärtet, um diesen normalerweise fröhlichen alten Herrn, der sich wichtig und als mitten im Leben stehend fühlt – er trägt etwas bei für seine Familie – so persönlich für seine Armut zu bestrafen. Alle Brunnen sind voll besten Weines und voll Champagner, dahin würde mancher gerne auswandern, wenn er nur wüsste, wo das Schlaraffenland liegt …

In der Station erwischt die Wiener Linien-Dame eine junge Frau, die ihren Dobermann ohne Beißkorb herumführt. «Ich habe ja Verständnis», sagt sie höflich und freundlich, «so ein schönes Tier!» Wahrscheinlich sollte sie besser in einem Tierheim arbeiten.

Inzwischen ist der alte Mann mit den strahlend bernsteinfarbenen Augen von seinem Platz beim Krankenhaus verschwunden. Ich mache mir Sorgen, denn bei unserem letzten Gespräch schwärmte er davon, dass er unter freiem Himmel auf der Brücke «Jehova» näher sei und deutete auf die Sterne über ihm.