«Ich sage immer, ich bin ein Stehaufmanderl»tun & lassen

Renate A.

Ich bin im Chancenhaus Obdach Favorita als Betreuerin im Notquartier bei den Frauen. Angefangen hat es damit, dass ich beim Neunerhaus meine Ausbildung als Peerberaterin gemacht habe, dann habe ich mich fürs Winterpaket angemeldet. Wir nehmen die Frauen auf, dann kriegen sie ein Bett zugewiesen. Wir haben Sechs-Bett-Zimmer und Acht-Bett-Zimmer. Wenn sie Probleme haben, wenn wir sehen, sie sind geknickt, gehen wir hin und sagen: «Was ist los, willst nicht reden?» Dann erzählen sie sehr viel, und wir versuchen zu helfen. Ich habe das Ganze selbst erlebt, und ich bin stolz auf mich, dass ich es so weit geschafft habe. Dass ich rausgekommen bin, dass ich helfen kann mit meinem Job. Das baut mich auf, das stärkt mich, und das rede ich mir auch jeden Tag selber ein. Man sagt zwar: Eigenlob stinkt. Aber das Lob stinkt nicht, es tut gut.

Zu meiner Zeit hätte ich mir so ein Notquartier gewünscht: Du bekommst ein Frühstück, ein Abendessen, kannst duschen, Wäsche waschen, hast ein warmes Bett und kannst den ganzen Winter dort bleiben. Ich wäre glücklich gewesen, wenn es das früher gegeben hätte. Dann hätte ich mich nämlich nicht auf den Strich stellen müssen, damit die Polizei mich erwischt und ich über den Winter sechs Wochen in den Häfen gehen kann. Wenn es nicht anders gegangen ist und man tagelang nicht wirklich was zum Essen hat – Hunger tut sehr weh –, dann muss man halt auch mal am Strich stehen. Auf der Straße muss man immer ideenreich sein, um zu überleben. Ich habe auch mit Betteln Geld verdient. Gestohlen hab ich nie, weil ich viel zu viel Angst davor habe. Mich hätten sie auf jeden Fall erwischt! Im Prater war es früher auch leichter, du hast überall arbeiten können, bei einem Standl Lose verkaufen, beim Autodrom die Leute animieren. Man hat nie so viel verdient, dass man sagt, jetzt kannst du dir eine Wohnung leisten. Es war einfach nur zum Überleben.

Ich war sieben Jahre obdachlos. Vorher habe ich meine eigene Wohnung gehabt.

In meiner Kindheit habe ich nicht wirklich viel Gutes erlebt, mir ist immer gesagt worden, ich kann nichts, ich bin nichts, ich hätte als Baby ertränkt gehört – und das sind noch die schönsten Worte, die ich bekommen habe. Als ich dann in meiner eigenen Wohnung war, ist mein Vater vor der Tür gestanden und hat gemeint, ich muss ihn aufnehmen, er ist wieder mal delogiert geworden. Ich habe zu viel Angst gehabt, um Nein zu sagen. Mein Vater ist cholerisch, er macht dich fertig, unterdrückt dich. Irgendwann hat es mir gereicht, und ich habe gesagt, ich schlafe lieber auf der Straße.

Meine Schwester war mit neun Jahren zum ersten Mal obdachlos. Sie hat nach der Schule die Schultasche weggehauen und ist nicht mehr heimgegangen. Sie hat einen Monat lang unter anderem im Venediger-Au-Park gelebt. Sie hat sich beim Billa ihres Vertrauens, wie sie sagt, die Sachen gestohlen, um zu überleben. Also, früher hat er Konsum geheißen. Aber er ist nicht durch sie in Konkurs gegangen, sagt sie immer dazu! Für sie war das das Schönste, was sie bis dahin erlebt hat: Spielen, immer mit Kindern zusammen sein, viel naschen, das hat ihr gefallen. Wir sind eine Riesenfamilie, aber komplett zerbrochen. In meiner Familie war es eigentlich immer so, dass man hingeprügelt hat, und meine Schwester und ich haben den Kreis durchbrochen. Wir haben gesagt, dass wir unsere Kinder nie schlagen werden. Und das haben wir auch nie gemacht. Meine Schwester ist schon als Kind ins Heim gekommen, und ich bin hin- und hergeschoben worden zwischen Großmutter und Vater. Mich hat in meiner Familie keiner wirklich gewollt, von Kindheit auf. Ich bin schlecht, ich kann nichts, ich bin nichts wert. Das hab ich von der ganzen Familie über die Jahre gehört, und irgendwann glaubt man es natürlich auch. Ich muss dazusagen, mein Vater war auch ein Heimkind, meine Mutter ist auch ein Heimkind. Sie sind alle durch die Heime geprägt. Wobei ich trotzdem sage: Ich kann nicht alles, was ich erlebt habe, meinem Kind wieder antun. Im Gegenteil, ich muss mein Kind beschützen.

Ich habe Freunde im Prater gehabt, dadurch waren die ganzen sieben Jahre der Obdachlosigkeit nicht so schwer für mich. Wir haben uns getroffen, sie haben aber nicht gewusst, dass ich obdachlos bin. Ich habe immer auf mich geschaut, dass ich sauber bin. Alkoholikerin bin ich keine, und Drogen habe ich auch keine genommen. Meine Freunde, das war eine Gruppe, die hat sich einen Namen gemacht im Prater: «die Pratergang». Alleine der Name hat dir Sicherheit gegeben, die anderen haben dich in Ruhe gelassen. «Mit denen wollen wir uns nicht anlegen, das ist eine Gang.» Wir waren aber keine Gang, die gesagt hat: «Komm, jetzt verprügeln wir Leute.» Wir haben uns getroffen, uns unterhalten, gelacht, viel unternommen, sind tanzen gegangen, weil im Prater hat es ein Tanzlokal gegeben, in dem jedes Wochenende Live-Musik war. Ich habe sehr viele Aggressionen in mir gehabt, aber die habe ich beim Autodrom ausgelebt. Ich war die brutalste Fahrerin. Ich bin jedem volle Wäsch’ reingefahren.

Versteckte Obdachlosigkeit sieht man den Menschen oft wirklich nicht an – es kann passieren, dass du in der U-Bahn sitzt, neben dir jemand mit Krawatte, fesch angezogen, aber der sitzt da, weil er sich aufwärmt. Das gibt es heute sehr viel. Man schämt sich einfach, obwohl man im Gegenteil sagen sollte: «Es ist passiert, ich brauche Hilfe, helft mir.» Es ist sehr wichtig, dass man sagt: «Bitte helft mir.» Und dass man sich auch helfen lässt. Allein schafft man es nicht, man kann noch so kämpfen. Man braucht jemanden, und wenn es nur zum Reden ist. Und wenn es nur einer ist, der dir die Hand gibt und sagt: «Komm, ich helf dir, ich öffne dir ein Türl.» Aber reingehen in die Tür musst du selber. Ich habe immer gekämpft – ich sage immer, ich bin ein Stehaufmanderl. Und irgendwann einmal habe ich gesagt, jetzt ist es so weit, dass ich mir helfen lasse. Und so habe ich es dann auch rausgeschafft.
Durch den Verein WOBES habe ich die Supertramps kennengelernt, das sind Obdachlose oder ehemalige Obdachlose, die Führungen machen entlang ihrer persönlichen Geschichten. Vor Leuten stehen und meine Geschichte erzählen? Das habe ich mir überhaupt nicht vorstellen können. Ich habe früher nicht mal meinen Namen sagen können, ohne nervös zu sein. Aber ich habe es probiert, und ich habe Selbstvertrauen gewonnen. Ich habe gelernt, dass ich sehr wohl etwas wert bin. Und dass ich sehr wohl etwas kann und wer bin.

Meine Tour beginnt am Praterstern, ich begrüße meine Gäste und sage dann meistens: «Willkommen in meiner großen dachlosen Wohnung.» Dann geh ich zu den Schließfächern, erkläre ihnen, wie ich die genützt habe, dann gehen wir in den Prater auf die Wiese, dort habe ich mich meistens mit meinen Freunden getroffen. Im Prater zeige ich, was ich den ganzen Tag gemacht habe, meine Arbeitsstellen, wenn es sie noch gibt. Im Stuwerviertel erkläre ich, dass ich auf den Strich gegangen bin und mich erwischen lassen habe. Im Venediger-Au-Park war mein Schlafplatz, im Gebüsch. Und dort erzähle ich auch, wie ich dazu gekommen bin, was ich jetzt bin. Viele ändern dann ihre Meinung über Obdachlose – das sind ja eigentlich starke Leute, die jeden Tag nachdenken: Wie überlebe ich weiter? Was uns auch freut, ist, dass viele Schüler ihre Meinung geändert und nach unserer Tour für Obdachlose zu sammeln begonnen haben. Sie sagen: «Wow, ich streite mit meiner Mutter wegen dem Handy … du streitest wegen dem Essen. Dieser Unterschied!»

Wenn ich Politiker wäre, gäbe es niemanden auf der Straße. Dann gäbe es viel mehr Häuser für die Leute. Ich habe jetzt gesehen, dass so viele Hotels seit Jahren leerstehen. Macht ein paar Zimmer daraus für obdachlose Leute! Ich habe immer gesagt: Wenn ich im Lotto gewinne, kaufe ich zwei leerstehende Hotels und lasse daraus ein Obdachlosenheim oder Chancenhaus machen.

Für mich persönlich wünsche ich mir Zähne, mit denen ich wieder einmal richtig in eine Wurstsemmel oder in einen Apfel beißen kann. Ein ganzes Gebiss kostet 6.000 Euro, das kann ich mir nicht leisten. Vielleicht gibt es einen Zahnarzt, der sponsert, spendet, oder auch Werbung damit machen will – damit ich wieder Zähne bekomme! Das wäre mein persönlicher Wunsch. Sonst bin ich eigentlich glücklich mit meinem Leben. Ich habe jetzt eine Gemeindewohnung, die kann ich aufsperren, reingehen und wieder zusperren. Ich kann machen, was ich will, und muss keine Angst haben. Eine Wohnung zu haben, hat sehr viel mit Menschenwürde zu tun. Keiner kann dich beobachten, wenn du den Vorhang zumachst, kannst du nackt herumlaufen, du kannst wirklich machen, was du willst. Du hast deine Würde, du hast dein Leben, ohne dass dich irgendwer stört. Also ich finde das sehr wichtig.

Protokolle aus dem Filmprojekt «Weisse Türen, weisse Fenster»
Interviews & Texte: Gabriela Markovic, Lisa Bolyos
Filmstills: Victor Kössl

Weiße Türen, weiße Fenster

Ein Kurzfilmprojekt über Frauen, die Erfahrung mit Wohnungslosigkeit gemacht haben
Idee: Regina Amer, Verein HOPE Austria
Konzept: Regina Amer, Gabriela Markovic,
Victor Kössl und Lisbeth Kovačič
mit: Jana W., Renate A., Carmen P. u. a.
Interviews: Gabriela Markovic
Kamera: Victor Kössl
Regie: Lisbeth Kovačič
Schnitt: Sandra Sieczkowsi
Tonmischung: Alexander Zlamal

Release: 2. Juni, www.klappeauf.at, #klappeauf
Augustin TV auf okto: 16. Juni

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