Lokalmatador
Günther Gahr hat als Bäckermeister in der Ankerbrotfabrik viel erlebt – auch Feines.
TEXT: UWE MAUCH
FOTO: MARIO LANG
Das Schönbrunner Marillencroissant, das Grießkipferl mit Himbeerfülle, die Böhmische Schnecke, auch Egerländer genannt. Wenn Günther Gahr durch die Ankerbrotfabrik in der Absberggasse geht, ist er auch ein bisserl stolz. Der Bäckermeister weiß nämlich, was drinnen ist: «Die meisten Rezepturen für die neuen Angebote haben sie von mir.»
Günther Gahr arbeitet seit vierzig Jahren hier. Er hat den «Anker», wie sein Arbeitgeber in dieser Stadt verkürzt heißt, als Rettungsanker schätzen gelernt: «Wir waren immer wie eine große Familie.» Er bekam jedoch auch mit, wie viel Schaden beratungsresistente Politiker_innen und Investor_innen anrichten können.
«Ich sag’s, wie’s is’», sagt Günther Gahr bei seinem Kontrollgang durch die Produktion. Das verspricht Spannung. Denn dann wird die Geschichte ungeschönt erzählt, so, wie er sie erlebt hat. Jedenfalls hat er all die, die in der Absberggasse viel Geld verbrannt haben, überlebt. Weit mehr als das. Er sagt, wie es ist: «Ich würde hier nie kündigen.»
Vor 130 Jahren.
Sein «Anker» ist Teil der Wiener DNA. Er wird oft in einem Atemzug mit der Mannerschnitte aus Hernals, dem Bier aus Ottakring und dem Gemischten Satz der Heurigen genannt.
Die Brotfabrik wurde vor 130 Jahren in Favoriten gegründet, von Anfang an mit dem Ziel, die ganze Stadt mit Backwaren zu versorgen. Heute ist sie längst nicht mehr so konkurrenzlos wie zum Beispiel am 7. Juni 1982, als ein damals 19-jähriger Geselle aus dem Weinviertel aufgenommen wurde.
Gelernt hatte Günther Gahr in einer kleinen Bäckerei in Nappersdorf, im Bezirk Hollabrunn. Es gab damals für einen jungen Bäck’ nur zwei Optionen, einen der begehrten Jobs «beim Anker» zu bekommen. Ein offenes Geheimnis: Entweder war man bei der Partei oder man konnte gut Fußball spielen. Es wird erzählt, dass der Günther sehr passabel ballesterte.
Vor 40 Jahren.
Die Übersiedlung in die große Stadt, die erste eigene Wohnung («eine Tschicklänge von der Arbeit entfernt»), die riesige Fabrik mit Hunderten fremden Menschen, das damals tiefgraue Favoriten: «Das alles war die Hölle», erzählt Gahr über den ersten Schock seines Lebens.
Drei Monate lang durfte der Frischgebackene, der nach vier Jahren Lehrzeit als Bäcker und Konditor der Welt einen Haxn ausreißen wollte, nur die Brote zählen und einschlichten. «Ich habe g’read wie ein Schlosshund», erinnert sich der Langzeit-Mitarbeiter an seine Tränen.
Er will schon kündigen, da wird er zum ersten Mal befördert: «Du wirst jetzt ein Höherer», verspricht ihm ein noch Höherer. Tatsächlich steigt er auf: «Einen Stock höher, zur Verpackungsmaschine.»
Dann geht es jedoch schnell: Günther Gahr wird trotz seiner Jugend bald Schicht- und sogar Produktionsleiter. Er holt in der Abendschule seine Meisterprüfung nach, «der Anker» bestimmt sein Leben: «Das war eine wunderbare Zeit. Wir sind abends und am Wochenende beisammen gewesen. Es wurde gekocht, gegessen und getrunken. Und wenn du irgendwo ein Problem hattest, fand sich immer jemand, der dir helfen konnte.»
Vielleicht hätte der alte Direktor weniger auf seine Partei und mehr auf die Bäcker_innen hören sollen? Nach zehn guten Jahren brechen jedenfalls auch für den jungen Meister härtere Zeiten an. Er sagt offen, wie es sein muss: dass man beim Mehl nicht sparen darf. Einen der neuen Machthaber macht er darauf aufmerksam, dass der Wiener Gaumen fades Einheitsbrot nicht schmecken kann. Und dass es im Übrigen strengstens verboten ist, mit der Zigarre im Mund durch die Produktion zu stolzieren.
«Ich wurde mehrfach gekündigt», amüsiert es ihn heute. «Und wenig später wieder eingestellt.»
Auch heute sagt er, wie es ist. Zum Beispiel: dass die Brote für die 130 Filialen anders zubereitet werden als die Brote für die Supermarktketten. Und dass sich die Filialbrote, aufbewahrt in einem Stoffsack, sechs Tage lang gut halten.
In 130 Jahren.
Einen wie Günther Gahr kann man nicht erfinden. Muss man auch nicht. Über den Zauber seines Berufs meint er zwischen zwei Backlinien: «Ich bin dankbar, dass ich immer wieder etwas Neues machen darf.»
Der Zeitzeuge geht auch mit dem «Anker»-Erbe verantwortungsbewusst um: «Ich will mein Wissen sicher nicht ins Grab mitnehmen. Bis ich in Pension gehe, werde ich den Jungen alles weitergeben, was ich von meinen Lehrherren lernen durfte.» Zum Beispiel den feinfühligen Umgang mit dem komplexen Sauerteig.
Am Ende schließt er einen Kreis, sagt noch einmal, wie es ist: «Wir haben die schlechten Zeiten überlebt, weil das Feuer in der Belegschaft immer groß war.»