«Ich schäme mich für gar nichts»tun & lassen

Niederösterreichische Sozialpolitik und der Alltag einer Alleinerzieherin

Der Bund macht das Sozialsystem ­kaputt. Niederösterreich ist mit seiner beschnittenen Mindestsicherung «Pilotland» für solcherlei Vorhaben. Wie schnell die negativen Auswirkungen spürbar werden, haben Stefanie Stadlober und Alban Knecht anlässlich eines Besuchs bei Frau K.* in NÖ erfahren. ­Illustration: Karl Berger

Von außen betrachtet hat das Leben von Frau K. einmal gut ausgesehen. Sie ist vierfache Mutter und ein sparsames Leben gewohnt. Sie erinnert sich gerne an die Zeit, als sie und ihre dazumal drei Kinder alles hatten, was zu einem würdevollen Leben dazugehört. Ihr erster Mann verließ das Haus in den Morgenstunden und kam erst spät abends von seinem Arbeitsplatz nach Hause. Sie betreute die Kinder und kümmerte sich um alles. Das war früher nicht unüblich, streicht sie hervor. Doch nach und nach wurden die Lebensbedingungen von Frau K. prekärer: Als ihr zweiter Mann vor zehn Jahren auszog, war das erst einmal eine emotionale Erleichterung, erzählt sie. Im ersten Jahr leistete er noch Unterhaltszahlungen für Frau K. und die gemeinsame kleine Tochter und kam für die Raten, das Haus und die laufenden Betriebskosten auf. Doch die Situation währte nicht lange: Er stellte alle Zahlungen ein und entzog sich der Verantwortung, für seine Familie zu sorgen und seine Schulden abzubezahlen.

Gesundheit, Geld, Kontrolle.

Frau K. musste nun von der Kinderbeihilfe und den 90 Euro Pflegegeld leben, die sie für den erhöhten Pflegebedarf für ihre Tochter bekommt. Einen Unterhaltsvorschuss erhielt Frau K. erst, nachdem sie ihn mit großen Mühen vor Gericht eingeklagt hatte. Sie erzählt mit Nachdruck, dass alleinerziehende Frauen in Österreich kaum Unterstützung erhalten, und sie sehr viel Geringschätzung auf den Ämtern erleben musste. Hinzu komme, dass sie regelmäßig an Beamt_innen geriet, die unzureichend über die Gesetzeslage und die Voraussetzungen zur Inanspruchnahme von Sozialleistungen informiert gewesen seien und auch wenig Interesse gezeigt hätten, sich ihrer Situation anzunehmen.
Gleichzeitig verschlechterte sich der Gesundheitszustand der kleinen Tochter mit Down-Syndrom massiv, da verschiedene Ärzt_innen Jahre lang das kindliche Rheuma nicht erkannt hatten. Die Folge: unzählige Arzttermine und Reha-Aufenthalte. An eine Arbeitsaufnahme war durch die intensive Betreuungssituation sowie die Sorgen um die Tochter nicht zu denken.
Neben der Sorge um den Gesundheitszustand der Tochter litt Frau K. zunehmend unter ihrer finanziellen Lage, die immer unsicherer wurde. Das Ansuchen um die Bedarfsorientierte Mindestsicherung, das letzte soziale Netz in Österreich, bedeutet für die Betroffenen, ihre gesamte finanzielle Situation offenzulegen – und das in regelmäßigen Abständen. Die feinmaschige Kontrolle über die Ein- und Ausgaben sowie die mit dem Anspruch verbundenen unzähligen Behördenwege hatten Frau K. vorerst abgeschreckt. Den Gang zum Gemeindeamt wagte sie erst nach einem Jahr. Sie betont, dass Beziher_innen der Bedarfsorientierten Mindestsicherung sehr viel Misstrauen entgegengebracht wird und der Umgang bei den Behörden sehr grob bis unmenschlich ist.

Sorgenfrei im Sozialstaat?

Auch in der 2018 vom Institut für Wirtschaftssoziologie der Universität Wien durchgeführten qualitativen Studie, in der 30 Gespräche mit Mindestsicherungsbeziehenden in Niederösterreich geführt wurden, waren Erzählungen darüber, dass Ansuchen lange herausgezögert wurden, keine Seltenheit. Die Stigmatisierung, die mit dem Bezug sozialstaatlicher Leistungen einhergeht, führt dazu, dass viele Anspruchsberechtigten keine Ansuchen stellen.
Die Vorstellung, dass nach dem Ansuchen den Bezieher_innen ein lockeres, sorgenfreies Leben bevorsteht, wie es häufig in der öffentlichen Debatte suggeriert wird, konnte bisher in keiner wissenschaftlichen Studie belegt werden. Stattdessen leiden viele Betroffene unter der Unzugänglichkeit, gesellschaftlichen Erwartungen zu entsprechen, die eine permanente Leistungssteigerung verlangen. Die öffentlich debattierten vermeintlichen Charakterzüge von Bezieher_innen – von Unwilligkeit bis Faulheit – führen zudem zu einem ständigen Rechtfertigungsdrang, auch vor Freund_innen und Familienangehörigen. In der qualitativen Studie haben vor allem alleinerziehende Frauen auf finanzielle Unsicherheiten im Zuge von verabsäumten Aliments- und Unterhaltszahlungen hingewiesen, sowie auf Einschnitte durch eine veränderte Berechnungsgrundlage, sofern ein Kind volljährig wird.

Wohnen als Belastung.

Zusätzlich bereitet die Ungewissheit über Änderungen der Leistungshöhen, wie sie durch die Kürzungen der niederösterreichischen Mindestsicherung entstanden sind und durch die bevorstehende Umwandlung der Mindestsicherung in eine Sozialhilfe fortgesetzt werden, eine fortwährende psychische Belastung, denn die Kürzungen bringen die Beziehenden in massive Bedrängnisse bei der Finanzierung ihrer Grundbedürfnisse wie Nahrungsmittel und Wohnen.
Insbesondere die Wohnkosten stellen eine große finanzielle Belastung dar, wie auch Umzugskosten, wenn der Wohnort gewechselt werden muss, um Kosten zu senken. Die Gesprächspartner_innen aus der Studie verweisen auf immense Schwierigkeiten, günstigen Wohnraum zu finden und auf das Risiko der Erhöhungen von Miet- und Betriebskosten vormals günstiger Wohnräume, die dazu führen, dass sie wiederum gezwungen werden, den Wohnort zu wechseln.

Die Hürden der neuen Sozialhilfe.

Viele Detailregelungen der niederösterreichischen Mindestsicherungsreform von 2017, wie die Deckelung der Beitragshöhe auf 1500 Euro und eine fünfjährige Wartefrist für beinahe alle Antragsteller_innen unabhängig von der Staatsbürgerschaft, wurden vom Verwaltungsgericht im Frühjahr 2018 gekippt. Dennoch orientiert sich das neue Sozialhilfe-Grundsatzgesetz, das im April im Nationalrat beschlossen wurde und ab 1. Juni gelten wird, in vielen Details an der niederösterreichischen Reform.
Die neue Sozialhilfe hat aber auch neue Hürden «im Gepäck». Die Unsicherheiten über die Bezugshöhe werden sich verstärken, da die obligatorische Ausstellung eines schriftlichen Bescheids wegfällt. Die vielen «Kann-Bestimmungen», wie beispielsweise der Bonus für Alleinerziehende sowie die «Härtefall-Regelung» vermitteln zudem den Anschein der Willkür: Zukünftig entscheiden die Länder selbst, wer ausreichend bedürftig ist und zusätzliche Sachleistungen zum Abgleich von Lebenserhaltungskosten und Wohnkosten erhält. Der Grad der Bedürftigkeit muss von den Antragstellenden nachgewiesen werden, die Spielregeln sind unklar.

40 Euro Taschengeld.

Auch die finanzielle Lage von Frau K. hat sich durch die Kürzungen, die sich durch die Einführung der neuen Mindestsicherung in Niederösterreich im Sommer 2017 ergeben haben, erheblich verschlechtert. Sie hatte die maximale Bezugshöhe von 1.500 Euro zwar gar nicht erreicht, jedoch galt das Pflegegeld, das sie für ihre Tochter erhält und das sich durch den schlechten Gesundheitszustand erhöht hat, von einem Tag auf den anderen als ihr Einkommen, und ihre Bezüge wurde dementsprechend gekürzt. Sarkastisch fügt Frau K. hinzu, dass ihrer Tochter immerhin noch 40 Euro Taschengeld im Monat zugestanden wurden.
Frau K. und ihre Tochter stehen nun eventuell auch vor dem Verlust der vertrauten Wohnsituation. Aber Frau K. wehrt sich gegen einen Umzug. Sie befürchtet, dass sie aus der vertrauten Umgebung, die für ihre Tochter sehr wichtig ist, und in der sie selbst aufgewachsen ist, wegziehen muss. Denn vor Ort gibt es keine geförderten Wohnungen. Die Tochter braucht Bewegung und da, wo sie jetzt wohnt, kann sie kostengünstige Reitstunden nehmen. Die Tochter hat ihre Schule, in der sie sich wohl fühlt, ihren Bekanntenkreis und die Therapiestunden. In eine abgelegene Gegend zu ziehen, würde für die beiden bedeuten, das alles zu verlieren.
Seit einem Jahr erhält Frau K. nun Mindestpension. Über die Zeit, als sie Mindestsicherung empfing, sagt sie heute: «In diese Situation muss man hineinwachsen, zuerst schämt man sich, aber jetzt schäme ich mich für gar nichts.» Ihre Einstellung hat sich radikal geändert: «In der Politik geniert sich auch niemand, da geniere ich mich auch nicht.»

* Der volle Name von Frau K. ist der Redaktion bekannt