«Ich schreibe von der Realität»Artistin

Literatur von Frauen mit Fluchterfahrung

Der Dichter Innenteil dieser AUGUSTIN-Ausgabe wartet mit Texten von Frauen auf, die heuer am Literatur-Projekt Wir schreiben uns ein beteiligt sind. Bevor auch live am 17. September präsentiert wird, was in den Schreibklassen entstand, hat Veronika Krenn (Text) mit Leiterin Mieze Medusa und Teilnehmerin ­Mirvat Abara gesprochen.

Foto: Ruth Weismann

«Ich lerne mehr als meine Kinder», sagt Mirvat Abara strahlend. Vor mir sitzt lächelnd eine 40-jährige gebürtige Syrerin, Mutter von zwei Halbwüchsigen und einem Neunjährigen. Seit drei Jahren lebt die Lehrerin für Mathematik und Chemie in Österreich. Sie hat drei Deutschkurse besucht und nimmt schon zweimal in Folge an den Schreibklassen des Projekts Wir schreiben uns ein teil. Das Projekt wird vom Verein für Literatur, Gesellschaft und Geschichte (LIGGES) zusammen mit der Österreichischen Gesellschaft für Literatur (ÖGL) und dem Literaturhaus Wien veranstaltet. «Nächstes Jahr wieder», plant sie schon, denn sie liebe die Diskussionen über Literatur bei den Lesekreisen, die Projektinitiatorin Evelyn Steinthaler hostet. Daneben besucht sie auch «euphorisch», wie sie sagt, beide Schreibklassen. Eine wird von der Autorin und Poetry-Slammerin Mieze Medusa geleitet – die sich ebenfalls zum Interview im Café Berfin am Siebensternplatz – eingefunden hat, die zweite von der Theodor-Körner-Preisträgerin Nadine Kegele. Seit 2017 gibt es Wir schreiben uns ein. Die Idee dahinter: Frauen mit Fluchthintergrund zu ermöglichen, in Schreibworkshops Deutsch auch als literarische Sprache zu erleben.

«Es hilft mir, die Mentalität von Österreichern zu verstehen, das ist wichtig für mich», sagt Mirvat Abara, «außerdem ist die Stimmung toll, wir sind eine multikulturelle Gruppe von Teilnehmerinnen aus Afghanistan, Syrien, Polen, Tschetschenien und noch mehr Ländern.» Mieze Medusa, eigentlich Doris Mitterbacher, hat viele schöne Texte der Teilnehmerinnen gelesen, viele haben Witz in sich, wie sie erzählt. Sie selber ist dabei manchmal mit ihrer Rolle im Konflikt, wenn sie Texte «korrigieren» soll, die ihr aufgrund ihrer Außergewöhnlichkeit gefallen. «Oft ist es eine poetische Sprache, die zwar nicht Standard-Deutsch ist, aber Charme hat», findet sie. «Denn bei Schreibworkshops mit Muttersprachlern muss man meist zuerst ermutigen, freier zu werden.» Abara entgegnet schmunzelnd: «Ich kann kaum Lesen und ­Schreiben, und Doris sagt, es ist poetisch.» Dabei stapelt Mirvat Abara tief, was nicht nur ihr Kurztext Ist das Fair, über ihre Verarbeitungsstrategie während ihrer Flucht übers Meer in einem «kleinen Nussschalenboot», beweist:

«Hallo Yin! Hallo Yang! Ich gratuliere euch. Ihr konntet die komplizierte Zeit miteinander überwinden. Liebe Yang! Ich verstehe dich. Du hattest Angst, dass die dunkle Nacht dich entstellt. Du hattest Angst, dass sie dich ändert. Du hattest Angst, dass die unfaire Welt dich, in dir drin, gebrochen hat. Aber du warst nicht allein. Yin war immer da – und wird immer da sein. Er hat auf dich gewartet, um deine Wunde zu behandeln. Yin war, ist, wird dein Heimatland. Yang sagt dir das. Immer. Aber … du bist, tief in dir weißt du das, eine unabhängige, selbstbewusste Frau. Und du glaubst daran: Yin ist toll, aber niemand bleibt bei dir, nur du.»

Schneller als die Zeit.

«Ich schreibe von der Realität», sagt die Neo-Wienerin, die sich gerade den bürokratischen Hürden stellt, um in Österreich den Lehrberuf wieder aufnehmen zu können. «Ich wünsche mir, wieder Lehrerin sein zu können.» Dazu gehört, neben Pädagogikkursen in ihrer neuen Heimat, die deutsche Sprache zu beherrschen: «Ich liebe es, zu lesen. Literatur ‹spüre› ich gut, aber auch Krimis – Agatha Christie – etwa, oder die Bücher von Dan Brown.» In Syrien habe sie viel gelesen, erzählt sie, aber in Österreich jagen sie viele administrative und bürokratische Termine durch die Stadt. Hier hat sie in den vergangenen Jahren schon einiges gemeistert: Drei Deutsch-Prüfungen absolviert, Schwimmen gelernt, der Gang zur Universität wäre ein nächstes Ziel. «Ich versuche schneller als die Zeit zu sein, den kurzen Weg zu finden», sagt sie, «Ich möchte so schnell wie möglich arbeiten und mein eigenes Geld verdienen.» Deshalb denkt sie auch an eine Ausbildung zur Chemieverfahrenstechnikerin, wo sie hofft, schneller eine Arbeit zu finden.

Mirvat Abaras Texte handeln sowohl von der Vergangenheit als auch von ihrem Leben in Österreich. Ein Thema, das sie bewegt und dem sie sich literarisch angenähert hatte, war die Verweigerung des Händeschüttelns aus religiösen Gründen. Etwa wenn eine Frau einem Mann die Hand reicht und er sich seine stattdessen auf die Brust legt. Geschichten von Frauen, die wenig gehört würden, sagt Mieze Medusa, sollen durch das Projekt Wir schreiben uns ein erzählt werden: «Für Frauen wird ohnehin wenig getan, und hier soll ein Freiraum sein, auch für ‹peinliche› Sachen.» Auch beim Lesezirkel würden ausschließlich Texte von Autorinnen gelesen, den Stimmen von Frauen solle so Gehör verschafft werden. Leicht mache man es sich (textlich) allerdings nicht, sagt sie, etwa wenn Friederike Mayröcker gelesen wird.

Dass die Workshops in der Österreichischen Gesellschaft für Literatur und dem Literaturhaus stattfinden und die Frauen so Zugang zu den repräsentativen Innenstadt-Räumlichkeiten bekommen, war ein Anliegen. Ebenso, sich Zeit zu nehmen und sich anzuschauen, wo Verständnisschwierigkeiten bestünden und wo nicht, sagt die Schreibklassenleiterin, über Sprache nachzudenken und sie neu kennenzulernen.

Erfahrungsaustausch.

Die Frauen schreiben viel über ihr Leben in Österreich, erzählt Mieze Medusa, auch wenn immer wieder mit Themenvorgaben und Übungen gearbeitet würde, wolle sie den Teilnehmerinnen überlassen, was sie teilen möchten. In den Workshop-Gesprächen, sagt sie, werde allerdings noch um einiges mehr besprochen als in den Texten. Mirvat Abara erzählt, wie wichtig es sei, mit den anderen Frauen Erfahrungen austauschen zu können: «Wir sind Multikulti, stammen aus vielen verschiedenen Kulturen. Die eine erzählt: In meinem Land machen wir dieses oder jenes. Etwas das im anderen Land etwas völlig anderes bedeutet. Obwohl es sich um ein Thema handelt, hat jede einen ganz anderen Zugang.» Mieze Medusa erzählt über Farben, die als Symbole verwendet würden und im jeweiligen Kulturkreis völlig unterschiedliche Bedeutungen haben können, ebenso wie Sprichwörter.

Der Austausch unter den Frauen sei aber auch über die jeweiligen Erfahrungen in Österreich und in Sachen Erlebnisse mit Behörden wichtig gewesen, erzählt Mirvat Abara. Gelernt habe sie im vergangenen Workshop vor allem von einer etwa 60-jährigen Frau, die sehr spät und erst nach ihrer Scheidung Deutsch zu lernen begann und das nun mit Optimismus und Hingabe tut, die alle anderen ansteckt und als Vorbild dient. Nicht das Alter sei wichtig, sondern die positive Energie und der Wille, zu lernen und selbständig zu werden.

Der Workshop soll den Frauen einen Freiraum für sie ganz alleine bieten, ohne Kinder und familiäre Verpflichtungen. Bei den gemeinsamen Treffen wurde gemeinsam geschrieben, einige haben auch zuhause Texte verfasst. Vor Ort wurde vorgelesen und Feedback gegeben. Besonders wichtig dabei war: positives Feedback, ob der Text berührt habe, und natürlich auch über die Sprache reden. «Wir haben gemeinsam entdeckt, was kreativ ist», freut sich Mieze Medusa.

Was sie als Leiterin einer der Schreibklassen denn als besondere Herausforderung empfinde? «Dass mir Formulierungen wirklich gefallen, aber mir nicht geglaubt wird», sagt Mieze Medusa, «bei Prosa ist es etwas anderes, da merkt man, wann ein Text etwas wird. Aber bei Lyrik denken viele, dass es sich reimen muss. Wo aber vieles, das ich an Texten poetisch und lyrisch finde, eigentlich verloren ginge. Da Selbstvertrauen zu entwickeln, ist wichtig. Gerade, wenn man die Sprache erst lernt, ist man so konzentriert darauf, dass man korrekt sprechen möchte.» Schön fände sie es, wenn für die Schreibklassen-Teilnehmerinnen auch Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften und weitere Auftritte möglich würden. Damit Frauen – welcher Kultur auch immer sie entstammen mögen – nachhaltig ein Forum geöffnet wird.

Wir schreiben uns ein

Projektpräsentation mit Lesung

17. September, 19 Uhr

Literaturhaus Wien, 7., Seidengasse 13

Eintritt frei!

www.literaturhaus.at