„Ich such die zweite Fremde`“tun & lassen

Erst im anatolischen Wien kam Kamer zu seiner Saz

Kamer__jpg.jpg28 Jahre lebt Kamer in Wien. Viele kennen ihn als Wirt des Lokals Epos. Manche kennen seine Liebe zur Saz. Wer ihn singen und spielen hört, muss denken, dass Kamer mit den Saiten der Saz aufgewachsen sei. Weit gefehlt. Erst in der großen anatolischen Stadt namens Wien erwarb Kamer sein erstes Instrument.

Den Eingang ins Gespräch versuchen wir mit einigen Liedern auf der Saz zu finden, dem in Anatolien gebräuchlichen Saiteninstrument, während ein Freund von ihm probiert, seinen Kater vom Vortag, für den er Kamer die Schuld gibt nur um ein paar Biere mehr zu verkaufen, habe er ihn die ganze Zeit saufen lassen -, mit Käse, Brot und Çay (Tee) zu verdrängen. Der Freund versucht mit minimalsten Bewegungen zu essen, denn jede schnelle und anstrengende Bewegung würde die Kopfschmerzen wieder auslösen.

Wir sitzen in Kamers Lokal Epos im siebenten Wiener Gemeindebezirk. Er hat schon eine Kanne schwarzen Tee und die Gläser vorbereitet. Er gießt Tee in die Gläser und plaudert über den gestrigen Abend.

Kamer erzählt, wie schön der gestrige Abend gewesen sei. Sie hatten auf ihren Instrumenten gespielt, getrunken und gesungen. Ich habe mich so jung gefühlt, Bruder!, sagt er mit leuchtenden Augen, die ihn irgendwie glaubhafter machen. Ich war voller Energie und Mut, sagt er. Wir merken, dass der Abend ihm mehr gab als seinem Freund, weil Kamer total fit wirkt und im Jogginganzug erschienen ist, als würde er im Anschluss laufen gehen, während der Freund jede unnötige Bewegung vermeidet.

Während Kamer mit uns spricht, spielt er immer wieder einige Noten auf seiner Saz, die er nicht aus der Hand gelassen hat, seit wir da sind. Als er zum ersten Mal im Dorf einen alten Mann Saz spielen sah, wusste er, dass er auch eine Saz haben und darauf spielen lernen musste. Zwei Jahre lang habe er seine Mutter täglich gequält, damit sie ihm ein Saz kaufe. Nach zwei Jahren willigte die Mutter ein.

Sie sagte ihm, dass sie eines der Tiere verkaufen würde, um mit dem Geld eine Saz zu kaufen. Nun hatten wir endlich das Tier verkauft, konnten aber keine Saz finden, lacht Kamer, und sein Gelächter besteht aus einem einzigen lauten Ton und vielen leiseren Nebentönen.

In der nächstgelegenen Stadt gab es keine Saz, und sie konnten auch niemanden finden, der wusste, wo man so etwas bekommen konnte. So kam Kamer nach Wien, ohne je eine Saz gekauft oder darauf gespielt zu haben.

Seine Liebe zu Musik ließ ihn nicht los und brachte ihn dazu, dass er hier einen Trommelkurs besuchte. Zwei Monate lang habe ich nichts anderes gemacht als 1-2-3/1-2-3-4 zu üben, erinnert er sich. Der Typ war ein Psycho, bemerkt er mit seinem markanten Lächeln, ich wollte musizieren lernen und er sagte mir, ich soll 1-2-3 üben. So ging ich nie wieder hin, sagt er. Aber nach einiger Zeit immehin ist Wien eine der größten anatolischen Städte fand er endlich doch jemanden, der eine Saz hatte. Ich habe sie mit nach Hause genommen und so lange gespielt, bis ich es konnte, antwortet er auf die Frage, wo er es zu spielen gelernt hat. Ich hatte richtige Wunden auf den Fingerkuppen, so viel habe ich gespielt. So unterbrechen wir unser Gespräch mit einem Lied, das Kamer anstimmt. Sein Freund, der am anderen Tisch vor sich hinvegetiert, ist munter geworden durch die Melodien aus der Heimat, wie sie die Lieder nennen.

Am 23. Mai 1980 kam Kamer nach Wien. 18 Jahre alt, das Gesicht voller Pickel und mit einem Anzug aus dem Dorf, so beschreibt er sich selber. Im Flugzeug fragte ihn ein Mann, der neben ihm saß, ob er ein Visum für Wien habe. Kamer sagte ihm, dass er sich erkundigt habe und dass kein Visum nötig sei. Der Mann neben ihm sagt, er würde ohne Visum nicht reinkommen, aber wenn er ihm 5000 Schilling gäbe, könnte er ihm ein Visum besorgen. Kamer: Der Mann hat so fuchsschlau ausgeschaut. Ich dachte, diesem Mann kann man nicht vertrauen. Ich habe ja für den Notfall genug Geld dabei, dachte ich, und lehnte seinen Vorschlag dankend ab.

Seine Geschwister hatten ihn nach Wien geschickt, damit er studiert. Ich aber hatte andere Träume, gesteht er. Für mich war Arbeiten und Geldverdienen das absolute Ziel. Arbeiten bedeutete Geld, und das wiederum Auto, Haus, also Luxus und das wollte ich unbedingt haben, antwortet er auf die Frage, warum ausgerechnet die Arbeit ein Lebensziel sei. Mein Traum war es, ein Fußballer zu sein, schreit der bis dahin schweigsame Freund.

Kamer begann in einem Restaurant zu arbeiten. Er jobbte in der Küche und backte Brot. Nach einigen Jahren kam ihn sein Bruder, der ihn zum Studieren nach Wien geschickt hatte, besuchen. Wir haben dich doch nicht zum Brotbacken hierher geschickt, sondern zum Studieren. Brot hättest du bei uns auch backen können, reagte sich der Bruder auf.

Wir können mit Argentinien anfangen

Nach mehreren Jahren im Restaurant wird er unglücklich: Die Arbeit ist für ihn bald nichts anderes als eine ständige Wiederholung desselben. So beschließt er, sich selbständig zu machen. Er und sein Cousin finden ein Lokal und eröffnen das heutige Epos. Einige Jahre lang war es sehr schwer, meint Kamer. Nach zwei Jahren konnte wir aber locker die Schulden und das Personal bezahlen. Na dann hat sich doch dein Traum erfüllt, hast du nun Haus, Auto, Luxus?, frage ich ihn provokativ. Wieder einer seiner Lacher, die einen zum Mitlachen hinreißen. Von wegen Reichtum. Ich fahre einen Lieferwagen und arbeite fast 16 Stunden, bemerkt er, von meiner Frage amüsiert. Ich glaube, ich bin der einzige Sozialist, der nicht nur von der Solidarität redet. Meine Mitarbeiter arbeiten 8 Stunden und ich 16 und ich verdiene grad einmal ein bisschen mehr als sie. So viel zum Reichtum und meinem Traum, sagt er sarkastisch. Früher war die Miete fürs Restaurant unbefristet, aber jetzt soll ich 2010 hier raus! Von wegen Traum von Reichtum. Schlimmer, ich stehe nun wieder am Anfang, meint er lächelnd. Übergeben wir halt das Lokal irgendjemandem und ziehen wir weiter. Du nimmst auch deine Saz und deine Trommel mit und wir ziehen weiter in eine zweite Fremde, scherzt er mit seinem Freund, der sich langsam aufgerappelt hat. Wir könnten doch mit Argentinien anfangen, schlägt er ihm vor.

Nur so können wir wieder mal etwas auf die Beine stellen. Wenn man in einem fremden Land ist, hat man eine ungeheure Menge an Energie. Weil alles neu ist. Weil man ein neues Leben anfängt und man mehr Kraft hat, etwas aufzubauen, versucht er uns zu erklären, warum ihm die Vorstellung, ein zweites Mal zu emigrieren, heiter macht. Ich habe hier doch genug erreicht. Ich will nicht das Ganze nochmals durchmachen und alles, was ich erreicht habe, in Gefahr bringen, antwortet der Freund scherzend. Ich unterbreche mein Interview für ein paar Fotos und beobachte, wie Kamer versucht, seinen Freund von seiner Idee zu überzeugen. Eine zweite Fremde, höre ich ihn zwischen den Sätzen laut aufsagen, das ist, was ich brauche.

Er ist ein unternehmenslustiger Mensch, was man ihm vielleicht nicht im ersten Augenblick ansieht. Von der Ferne bietet sich das Bild des 20 Stunden arbeitenden kurdischen oder türkischen Mannes, der sein ganzes verdientes Geld in die Heimat schickt und selbst in einem Loch lebt. Jedoch wird man eines Besseren belehrt, wenn man mit ihm zu sprechen beginnt. Seine sehr guten Deutschkenntnisse überraschen einen genauso wie der Witz in seiner Sprache. Er schafft es gekonnt, von seiner markanten Nase, die einen großen Platz in seinem Gesicht einnimmt und ihn zu einem Unikat macht, durch sein gewöhnungsbedürftiges, aber bald mitreißendes Lachen abzulenken. Er ist viel herumgereist, nicht wie der typische Gastarbeiter jedes Jahr in die Heimat. Zwischen Südamerika und Indien hat Kamer versucht, andere Länder und Kulturen zu erkunden. Vielleicht hat er deswegen die Kraft und den Mut, neu anzufangen in einer zweiten Fremde. Kamer ist ein gutes Beispiel, wie man aus dem Leben in einem fremden Land positive Kraft schöpfen kann.

Wir verabschieden uns mit einem letzten Lied, das wir gemeinsam singen.