Ein Buch, das hilft, mit Demenz zu leben
Die Gesellschaft, vor allem die wohlständige, wird älter. 130.000 Menschen, schreibt der Sozialarbeiter Erich Fenninger, sind derzeit in Österreich an Demenz erkrankt. Beziehungsweise sagt er nicht erkrankt, sondern betroffen; denn Mediziner_innen seien sich gar nicht mehr so einig, ob Demenz als Krankheit oder einfach als Alterserscheinung einzustufen ist. Um das Verstehen zu erleichtern und Tabus abzubauen, hat Fenninger ein Buch herausgegeben.Mathilde Faninger ist 86 Jahre alt. «Vielfältig» ist für ihre Erfahrungen mit Pflegearbeit gar kein Ausdruck: Sie hat zwei Kinder aufgezogen, ihre an Parkinson erkrankte Mutter gepflegt, und als sie zum ersten Mal selber auf Kur fuhr, erhielt sie dort die furchtbare Nachricht, dass ihr Mann an einem Herzinfarkt gestorben war. Später fand Mathilde einen neuen Lebenspartner. Den pflegte sie bis zu seinem Tod. Den darauffolgenden Rückzug interpretierten die Kinder als Trauer, dann als Depression. Auch für die mehrfachen Stürze fanden sie Erklärungen. Erst nach Monaten erfolgt die Diagnose: mittelschwere Demenz.
Heute wird Mathilde von ihrem Sohn Helmut gepflegt, der nach einem Herzinfarkt aus dem Berufsleben austrat: «Jetzt bin ich in Pension, und das ist gut, weil ich nun meine Mutter betreuen kann.»
Demenz-Lehrbuch der feinsten Art
«Es gibt kein medizinisches Gegenmittel und somit keine Heilung, diese Voraussetzung wird sich in den nächsten Jahren nicht wesentlich ändern.» So weit, so schlecht. Dennoch oder gerade darum hat Erich Fenninger ein Buch zu Demenz herausgegeben: ein fettes, ein schönes, ein optimistisches Buch. «Ich bin, wer ich war», ist der programmatische Titel.
Dieser «Demenz-Reader», der alltagstauglich und offen für Leser_innen auf nicht-fachlichem medizinischem Niveau gehalten ist, ist in drei Abschnitte geteilt. «Mit Demenz leben», heißt der erste; im zweiten werden Pflegebedürftige und Pflegende gemeinsam porträtiert, und der dritte ist als Serviceteil eine Art Glossar, Adressregister und Wörterbuch.
Mit Demenz leben also, aber wie? Von den ersten, verunsichernden Anzeichen bis zum gelungenen Umgang wird die ganze Chose beinahe schulbuchartig von A bis Z durchgenommen. Und zwar aus den drei möglichen Perspektiven, die man dazu einnehmen kann: selbst von Demenz betroffen zu sein, als Angehörige Pflegearbeit zu leisten oder keines von beiden und schlicht als Teil einer (Zivil-)Gesellschaft mit in der Verantwortung zu stehen. In der strukturellen Verantwortung dafür, dass der Tabubruch, über Alter, Krankheit und häusliche Pflegearbeit zu sprechen, endlich passieren kann; und in der konkreten Verantwortung dafür, mal nachzufragen, wenn die Nachbarin müde aussieht, wenn der Arbeitskollege andeutet, dass sein_e Partner_in zu vergessen beginnt. Nicht nur, aber auch, weil es eine_n durchaus selbst treffen kann. Und dann ist es doch klug, schon einmal «davon» gehört zu haben.
Von der komplexen Kunst des Vergessens
Wie stellt sich Demenz dar? Immer anders. Nicht nur von Person zu Person, sondern potenziell auch bei einer Person von Tag zu Tag. Um diesem Veränderungsprozess gerecht zu werden, schreibt Fenninger vom «dementieren» als einem aktiven Verb. Die ständigen Neuerungen, die verschiedenen Stadien des Vergessens, der Traurigkeit, der Aggression, die sich distanzierenden und wieder annähernden Beziehungen zu den nächsten Menschen, all das ist die größte emotionale Herausforderung für die Pflegenden, aber natürlich auch für die von Demenz Betroffenen selbst. Die Hochschaubahnen des Verhaltens machen jene sozialen Beziehungen, die vorher ganz selbstverständlich waren – ein Tratscherl im Stiegenhaus, ein unverbindliches Gespräch an der Straßenbahnhaltestelle – zu komplexen Situationen, denen nicht jede_r gewachsen ist. Schon gar nicht unvorbereitet. Man erinnert sich einen Lebtag an das erste Mal, dass die eigene Großtante eine Frage vollkommen falsch beantwortet hat; erst denkt man, sie hat sich verhört. Dann, dass ihr Gehör schlechter geworden ist; dann, dass sie unkonzentriert ist; man ärgert sich ein bisschen, schließlich war sie immer eine Vertrauensperson. Und dann findet sie ihre Geldbörse nicht (pass doch auf deine Sachen auf!), und dann fällt ihr der Weg zum Bäcker nicht mehr ein (da warst du doch tausend Mal!); und dann dein Name. Und da dämmert es langsam. Und wenn man gar nicht vorbereitet ist, hat man – bis es dämmert – schon eine Reihe von Kränkungen ausgesprochen.
Wer Zeit findet, dem sei also ans Herz gelegt, dieses oder ein ähnliches Buch zu lesen, lange bevor es dringend notwendig wird. Das wird den Schreck nicht ersparen, wenn die Demenz ins eigene Leben tritt, aber es wird ihn organisierbar machen.
Fotos: Jürgen Pletterbauer, aus dem besprochenen Band
Erich Fenninger (Hg.): Ich bin, wer ich war. Mit Demenz leben
Residenz Verlag 2014, 287 Seiten, 21,90 Euro