Mit Junischnee hat Ljuba Arnautovi´c den zweiten Band einer Trilogie vorgelegt, die im Wien des Februar 1934 beginnt. Ein Gespräch über die Literaturwerdung einer Familiengeschichte im Exil.
Text: Barbara Eder
Foto: Nina Strasser
Ljuba Arnautović, zu Beginn unseres Gesprächs möchte ich auf den Februar 1934 eingehen. Die Handlanger des austrofaschistischen Regimes haben den Aufstand dazumal blutig niedergeschlagen. Koloman Wallisch und Georg Weissel wurden hingerichtet, der Austromarxist Otto Bauer ging ins Brünner Exil. Die Fluchtroute Ihrer Protagonist_innen ist jedoch eine andere …
Der erste Band meiner Trilogie, Im Verborgenen, handelt von der Geschichte meiner Großmutter, die eine glühende Sozialistin war. Sie lebte im Bewusstsein, am Aufbau des Roten Wien mitzuwirken, später wurde sie Kommunistin, am Ende Christin. Aufgrund der politischen Repression – erst im Austrofaschismus, dann im Nationalsozialismus – schickt sie ihre Söhne, die Schutzbund-Kinder Slavko und Karl, in die Sowjetunion. Hier beginnt die Handlung von Junischnee.
Exilgeschichten von Österreich in die Sowjetunion sind rar, Vorbilder dafür gibt es kaum. Gab es einen konkreten Anlass dafür, diese Geschichte zu bearbeiten?
Meine Familiengeschichte beschäftigt mich schon lange, aufgeschrieben habe ich sie erst relativ spät. Ich habe zuerst einmal das Leben einer Frau in unserer Gesellschaft geführt, also: Ehe, Kinder, Alleinerzieherin und Prekariat. Das Bedürfnis, literarisch zu schreiben, hatte ich früh, konnte mich diesem allerdings erst mit Anfang Fünfzig zuwenden. In dieser Phase des Lebens hat man große Zweifel – und auch hohe Ansprüche an sich selbst: Kann ich das – und darf ich das überhaupt? Die Geschichten waren allerdings so drängend, dass ich gar nicht anders konnte als darüber zu schreiben. Anfangs habe ich alles chronologisch aufgeschrieben, später wurde Literatur daraus.
Wie hat sich dieser Prozess entwickelt?
Die ganze Zeit über hatte ich das Gefühl, dass meine verstorbene Großmutter noch etwas zu sagen hatte, sie möchte, dass ihre Geschichte bekannt wird. Und irgendwie wollte ich das auch. Im Geschichtsunterricht habe ich immer nur von großen Männern gehört, deren Lebensdaten einem ins Gedächtnis gehämmert werden. Ich finde aber, dass meine Großmutter genauso heldenhaft agiert hat wie so manche anderen! Sie hat sehr viel erzählt, man weiß jedoch, dass Erzählungen immer mit Vorsicht zu genießen sind – sie verselbständigen sich oft, verändern sich auch. Deshalb habe ich zu recherchieren begonnen, nach Briefen, Dokumenten und anderen Spuren im Archiv gesucht.
Die Erzählung hat sich also nach und nach vom dokumentarischen Material abgelöst?
Von der dokumentarischen Form bin ich zusehends abgekommen. Ich habe die Lust verspürt, diesen Menschen Leben einzuhauchen. Ich habe ihnen Stimmen gegeben, sie Gespräche führen lassen und ihnen Gedanken in den Kopf gelegt. Und Gefühle ins Herz – das ist dann die fiktionale Abteilung. Dem, was Wirklichkeit genannt wird, darf man nicht immer trauen: Viele Dokumente, die ich gefunden habe, waren fehlerhaft, in einem wurde meine Großmutter, die ins Gefängnis kam, etwa als katholische Nonne bezeichnet – sie war aber Sozialistin!
Da verkehrt sich offenbar das Verhältnis von Wirklichkeit und Fiktion. Bauen die Korrespondenzen in Junischnee auf diesen historischen Dokumenten auf?
Mit den Briefen im Buch hat es eine besondere Bewandtnis. Anfangs habe ich festgelegt, dass Dokumentarisches kursiv gedruckt werden soll, alles andere nicht – davon bin ich später abgekommen. Die Briefe, die der Sohn nach seiner Zeit im Gulag an seine Mutter richtet, sind Originale, werden im Buch aber nicht als solche ausgewiesen. Ich habe das so gemacht, weil ich selbst Briefe dazu erfunden habe: die von Karl an seine Ehefrau und solche, die zeitgleich an seine Geliebte gerichtet sind. Man würde die Situation – es geht auch um die Remigration nach Österreich – aber nicht richtig einordnen können, wenn es diese fiktiven Briefe nicht gäbe.
Sie kommen vom Radio-Feature, in welcher Weise hat dies Ihre literarische Arbeitsweise beeinflusst?
Zur Radioarbeit gibt es bestimmte Parallelen, man fügt verschiedene Stimmen aneinander, schiebt einzelne Puzzleteile hin und her. Offensichtlich funktioniert das auch beim Roman. Begonnen hat die Arbeit an den Romanen mit einem Ö1-Feature über meinen
Onkel Slavko. Ich habe mir die KGB-Verhörprotokolle aus Moskau besorgt, sie aus dem Russischen übersetzt und zahlreiche Interviews geführt. Aus arbeitsrechtlichen Gründen konnte ich ein zweites Feature aber nicht produzieren. Das hat dann auch zu einem Verfahren beim Arbeitsgericht geführt, das ich – trotz guter Chancen – verloren habe. Ich bereue es dennoch nicht, auf meine Rechte gepocht zu haben – danach durfte ich für den ORF allerdings nichts Größeres mehr produzieren.
Das hat auch mit Strukturen zu tun: Manche Ö1-Sendungsverantwortlichen sind Männer aus gehobenen Schichten. Konnte das Feature dennoch produziert werden?
Das Slavko-Feature hat Ö1 in Kooperation mit dem Deutschlandfunk produziert, bezahlt hat der ORF seinen Anteil aus der Dienstreisekassa. Angestellt wurde ich als Sekretärin, das zweite Feature konnte ich deshalb nicht mehr machen. Das Manuskript lag einige Jahre lang herum und ist in anderer Form wieder aufgetaucht. Die kreativen Kräfte in uns lassen uns am Ende ja doch nicht los!
Manchmal braucht es offenbar einige Umwege …
Ich bringe Literatur viel Wertschätzung entgegen. Gegenwärtig wird jedoch nicht nur viel, sondern auch viel Schlechtes gedruckt. Ich wollte etwas schreiben, das ich selbst gerne lesen würde – dementsprechend lange hat es gedauert. Eigentlich ist es doch unglaublich, dass man sein ganzes Leben daran arbeitet, im Schreiben zu einer Sicherheit zu kommen. Uns Frauen werden ständig Zweifel an dem, was wir tun, eingeimpft, wobei Zweifel an sich ja nichts Schlechtes sind: Man soll ruhig an dem zweifeln, was man macht, wenn der Zweifel aber so beschaffen ist, dass er eine_n hemmt, dann stimmt mit dieser Art von Zweifel etwas nicht …
Das hat auch viel mit dem bürgerlichen Literaturbetrieb zu tun, der Geniekult trägt sein Übriges dazu bei …
Dahingehend habe ich den Vorteil, dass ich schon so alt bin – und ich sehe das wirklich als Geschenk! Oft erlebe ich junge Kolleg_innen, die früh reüssieren, und ich sehe, was das mit ihnen macht. Sie werden durch Medien hochgehievt und davon abhängig. Psychisch muss man damit aber überhaupt erst umgehen lernen. Ich hingegen kann relativ rücksichtslos sagen, was ich denke – und das fühlt sich gut an! Ich frage mich, was ich mit Zwanzig denn überhaupt schreiben hätte sollen, ich wäre damals viel zu sehr mit mir selbst beschäftigt gewesen. Lange Zeit war ich auch davon überzeugt, dass man etwas noch nie Dagewesenes erschaffen muss, um im Literaturbetrieb mitspielen zu können – eine andere Sprache finden, eine andere Form, etwas, das dann Avantgarde genannt wird …
Von einer «neuen Stimme in der Gegenwartsliteratur» ist im Feuilleton dann gerne die Rede …
Ja, genau! Ich selbst schätzte mein Schreiben aber als relativ konventionell ein und wollte immer Worte, Sätze oder Wendungen finden, die die Leser_innen erreichen. Damit es so ankommt, wie ich es meine. In den ersten Rezensionen zu meinen Büchern war dann aber davon die Rede, dass «die russisch-österreichische Autorin Ljuba Arnautović zu ihrer ganz eigenen, unverbrauchten Sprache gefunden hat». Das hat mich am Ende dann doch sehr überrascht (lacht).