«Ich werde nie mehr auf der Seite der Henker stehen»tun & lassen

Jean Ziegler über Gipfelproteste, die Zivilgesellschaft und den Kampf gegen die Banken

Der Grat ist schmal, die Hoffnung reell. In seinem aktuellen Buch «Der schmale Grat der Hoffnung» blickt Jean Ziegler, Mitglied im beratenden Ausschuss des UN-Menschenrechtsrates, auf ein aktives Leben zurück. Die Zukunft, meint er, liegt in der Hand einer widerständigen Zivilgesellschaft. Alexander Behr (Interview) und Lisa Bolyos (Foto) haben ihn in Wien getroffen.

Die Situation könnte paradoxer nicht sein: in Ostafrika eine Hungerkrise, in Europa Vorbereitungen für den G20-Gipfel. Was ist von dort überhaupt zu erwarten?

Wenn man die bisher stattgefundenen Gipfel ansieht – Heiligendamm, Gleneagles usw. – kann man feststellen, dass jedes Mal Milliarden an Hilfsgeldern versprochen wurden, von denen praktisch nichts ausbezahlt worden ist. Insgesamt sind eine Milliarde von den 7,3 Milliarden Menschen auf diesem Planeten von schwerster Unterernährung betroffen – sie haben aufgrund dessen kein Sexualleben, kein Arbeitsleben, nichts; sie haben nur Angst vor dem nächsten Tag. Derselbe World-Food-Report, der die Opferzahlen feststellt, sagt, dass die heutige Landwirtschaft problemlos zwölf Milliarden Menschen ernähren könnte, also fast das Doppelte der aktuellen Weltbevölkerung. Es gibt keinen objektiven Mangel an Nahrungsmittel auf der Welt mehr. Das Problem ist der fehlende Zugang und die fehlende Kaufkraft.

Ein Grund für den Hunger ist die Börsenspekulation mit Grundnahrungsmittel. Wir können – auch hier in Österreich – den Nationalrat morgen früh dazu zwingen, einen einzigen Gesetzesartikel zu ändern und die Spekulation mit Nahrung zu verbieten. Millionen von Menschen wären durch solch eine Maßnahme innerhalb kürzester Zeit gerettet. Es sind nicht die Marktkräfte, die die Welt nach vermeintlichen Naturgesetzen beherrschen, sondern immer noch Menschen, die die Gesetze machen. Mein Buch trägt den Titel «Der schmale Grat der Hoffnung»: Der Grat ist schmal, aber die Hoffnung ist reell. Die Zivilgesellschaft, diese mysteriöse Bruderschaft der Nacht, die aus all den vielfältigen Bewegungen zusammengesetzt ist, die an ganz verschiedenen Fronten gegen die kannibalische Weltordnung und gegen die Staatsraison Widerstand leisten, diese Zivilgesellschaft ist das neue historische Subjekt. Sie ist die Hoffnungsträgerin. Sie hat kein Parteiprogramm, keine Parteilinie und kein Zentralkomitee – sie funktioniert nur nach dem kategorischen Imperativ. Bei den Protesten gegen den G20-Gipfel wird sich ihr Widerstand formieren.

Ihren einzigen Roman, «Das Gold von Maniema», haben Sie dem Kongo gewidmet. Was verbindet Sie mit den Befreiungskämpfen in diesem Land?

Ich verdanke dem Kongo sehr viel – dort hatte ich meine erste bezahlte Arbeit! Nach der Ermordung von Lumumba im Jahr 1961 hat die UNO die Zivilverwaltung und auch die militärische Verwaltung im Kongo übernommen. Ich hatte eine kleine, unwichtige Stelle als Assistent. Der Einsatz im Kongo hat mich vieles gelehrt – auch Dinge, die mit meiner einfachen antiimperialistischen Weltsicht nicht zusammenpassten. Und es gab dort ein Schlüsselerlebnis: Das letzte Hotel in Kalina, das noch funktionierte, war unser Hauptquartier, es war mit Stacheldraht umgeben. Jeden Abend leerten die Köche die Essensreste über den Zaun. Jeden Abend kamen aus den Elendsvierteln die hungernden Menschen, um Nahrungsreste zu ergattern. Die Blauhelme, die uns bewachten, schlugen mit Gewehrkolben auf ihre Köpfe ein. Wir hingegen waren zur gleichen Zeit im Hotel, aßen gut und wurden von diskreter Musik berieselt. Damals habe ich mir geschworen, dass ich, was auch immer geschehen möge, niemals mehr auf der Seite der Henker stehen werde.

1973, nach dem Putsch in Chile, haben Sie zusammen mit vielen anderen Aktivist_innen die Schweizer Freiplatz-Aktion für Chile-Flüchtlinge ins Leben gerufen. Kann dieser Ansatz heute eine Inspiration für die Aufnahme von Geflüchteten sein?

Ja, ganz sicher. Im September 1973 wurde Allende gestürzt. Danach setzte die fürchterliche Repression von Pinochet ein. Tausende Menschen wurden gefoltert und ermordet, doch vielen gelang es, zu fliehen. Der Schweizer Bundesrat sagte, dass man diese Flüchtlinge nicht aufnehmen werde – viele meinten, dass man keine Kommunisten ins Land lassen werde. Da hat sich die Zivilgesellschaft organisiert: protestantische Pfarrer im Tessin, der großartige, mittlerweile leider verstorbene Priester Cornelius Koch, die jungen Leute der Bewegung Longo Mai … Sie haben gesagt: So geht das nicht – die Chilenen haben ihr Leben für die Demokratie aufs Spiel gesetzt, wir müssen ihnen helfen! Tausende Familien haben sich bei der Freiplatzaktion gemeldet und kundgetan, dass sie chilenische Flüchtlinge aufnehmen werden. Daraufhin musste die Regierung nachgeben.

Die Freiplatz-Aktion war natürlich für die Flüchtenden eine sehr wichtige Sache, doch in erster Linie haben die Schweizer profitiert: Die kulturelle und politische Bereicherung durch die Chile-Flüchtlinge war enorm. Ich bin der Meinung, dass die schweizerische Linke längst tot wäre, hätte es nicht die chilenischen Flüchtlinge gegeben. Sie haben ihre Erfahrung und ihre Energie eingebracht, und wir müssen ihnen dafür sehr dankbar sein.

Wir bräuchten heute eine Freiplatz-Aktion wie damals – und zwar zu unseren eigenen Gunsten! Es geht ja nicht nur darum, Gastfreundschaft zu üben; es geht auch darum, von den anderen zu lernen und zu begreifen, dass die kulturelle Symbiose immer eine ungeheure Bereicherung für die Menschen im Gastland ist.

Das aktuelle Agieren der EU ist hingegen ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit – Ihre Politik beruht auf Abschreckung. Offiziell gibt man es zwar nicht zu, doch man kalkuliert damit, dass weniger Flüchtlinge nachkommen, wenn Menschen an den Stacheldrahtzäunen der EU-Außengrenzen sterben oder im Mittelmeer ertrinken. Dieses Kalkül ist jedoch objektiv falsch und außerdem moralisch absolut unhaltbar. Diese Haltung liquidiert die Grundwerte Europas – deshalb müssen wir dagegen aufstehen.

Sie haben sich sehr dafür eingesetzt, dass Angehörige der Opfer der Shoa Zugang zu den sogenannten «vergessenen» Bankkonten in der Schweiz bekommen konnten. Was ist damals passiert?

Als Hitler an die Macht kam, haben viele jüdische Gemeinden, Unternehmen usw. ihr Geld in die Schweiz geschickt, obwohl das unter Androhung der Todesstrafe verboten war. Geld ins Ausland zu schaffen war für die jüdische Bevölkerung eine logische Maßnahme der Selbstverteidigung. Dann kam das fürchterlichste Verbrechen, das man sich vorstellen kann: die Vernichtung von sechs Millionen Juden und Jüdinnen. Die Schweizer Bankiers haben danach darauf gehofft, dass diese Kunden nicht mehr kommen würden und haben ihre Konten einfach in die stillen Reserven ihrer Banken überführt. Sie haben sich das Geld auf diese Weise illegitim angeeignet, sie haben es praktisch gestohlen! Ich habe dann das Buch «Die Schweiz, das Gold und die Toten» geschrieben, worauf ich vom amerikanischen Senat eingeladen wurde, um für den Jüdischen Weltkongress Zeugnis abzulegen. Das hatte zur Folge, dass ich in der Schweiz wegen Landesverrat angeklagt wurde.

Letzten Endes mussten die Schweizer Banken einlenken. Sie strebten einen Vergleich an, der sich auf rund 1,2 Milliarden Dollar belief – das war natürlich eine viel zu geringe Summe. Ich verstand aber damals auch die Dringlichkeit der Sache: Viele Nachfahren der ermordeten Juden und Jüdinnen lebten in großer Armut und waren dringend auf Unterstützung angewiesen; es war also besser, das Geld auszubezahlen, anstatt mittels Sammelklagen über viele Jahre hinweg zu prozessieren, bis es letztendlich zu spät wäre. So wurde der Vergleich akzeptiert. Es war trotz der Abstriche ein gewisser Erfolg.

In Ihrem aktuellen Buch schreiben Sie, Sie seien im tiefsten Inneren davon überzeugt, dass die Geschichte einen Sinn hat – Sie glauben an die Menschwerdung des Menschen.

Ich bin ein Bolschewik, der an Gott glaubt. Ich möchte mich Victor Hugo anschließen, der gesagt hat: «Ich hasse alle Kirchen, ich liebe die Menschen, ich glaube an Gott.» Die Liebe, die ich in meinem Leben erfahren habe, und die Liebe, die ich in den weltweiten Befreiungsbewegungen gesehen habe, hat mir gezeigt, zu welch großen Taten der Mensch fähig ist.

 

Jean Ziegler: Der schmale Grat der Hoffnung

C. Bertelsmann 2017

320 Seiten, 20,60 Euro