«Ich wollte mein Leben mit Kindern verbringen»Artistin

Evamarie Kallir wollte «Menschen, die nirgends richtig Zuhause sind», unterstützen. Als Mädchen musste sie aus Wien flüchten, nach ihrer Rückkehr ­arbeitete sie im SOS-Kinderdorf und schuf zusammen mit den Kindern Kunst. Von Kerstin Kellermann

Foto: Dan Young 

Ein schwarzer Blumenstrauß auf Schwarz, ein blauer Vogel plus Sonne auf rostbrauner Farbe. Beherzt holt die alte, beinahe blinde Dame die kleinen Keramikplatten von der Wand und dreht sie um. «Die Kinder ritzten in eine Gipsplatte mit Linol-Werkzeugen hinein», erklärt Evamarie Kallir die Herstellung der Relief-Kunstwerke. «Dann drückten sie von hinten Ton hinein, dann kommt das Motiv im Positiven als erhöhte Oberfläche heraus.» Hinten kann man noch die Abdrücke von Kinderfingern sehen.»

Evamarie Kallir, aus Wien stammend, arbeitete in den 1950er-Jahren im SOS-Kinderdorf im Tiroler Imst. Sie erhielt freie Hand vom Direktor Hermann Gmeiner, sich eine eigene Werkstatt aufzubauen. Amerikanische Quäker_innen schenkten ihr einen Brennofen. «Bei uns lebten Kinder von Besatzungssoldaten. Die Mütter hatten die abgegeben. Schwarze Kinder, aber auch Kinder von Russen, eine kleine Inderin», erinnert sich die 94-Jährige. Damals fuhren Tourist_innenbusse ins SOS-Kinderdorf, weil die Familienmäßige Betreuung eine wesentliche soziale Neuerung war. 160 Kinder lebten hier in zwanzig langgestreckten Häusern auf einem Hügel. Die Tourist_innen wurden angehalten, Geld zu spenden. Kallir erzeugte Produkte für den Andenkenladen. «Ich sehe mich als Handwerkerin, nicht als Künstlerin. Ich habe so ziemlich alles an handwerklichen Sachen gemacht», sagt sie.

Schiele-Mappe auf der Flucht.

Vater Otto Kallir besaß eine Galerie in der Nähe des Wiener Stephansdoms. Als die Familie flüchten musste, nahm er eine Mappe mit Zeichnungen von Egon Schiele mit. In der New Yorker Galerie der Enkelin kann man diese frühen Zeichnungen noch heute ansehen. «Schiele war damals völlig unbekannt, Gustav Klimt auch. Spinat und Kochsalat nannten wir ein Klimt-Bild voller Bäume in unserem Speisezimmer. Entartete Kunst durfte man eher ausführen, Egger-Lienz oder Waldmüller hätte man nicht mitnehmen dürfen», kommentiert Evamarie Kallir.

Sie selbst ging ihren völlig eigenständigen Weg in der Kunst. Noch heute steht ein Holzofen in ihrer Altbauwohnung in Ottakring. Als junge Frau sah sie plötzlich einen Engel in einem Stück Ofenholz und machte einen Holzschnitt, von dem sie mit Papier Abbildungen abzog. Sie zaubert ihn aus dem Holzschrank mit den Schiebetüren heraus – der Engel erinnert an Paul Klees berühmten Engel, der Walter Benjamin gehörte. Mit den Kindern im SOS-Kinderdorf arbeitete sie auch viel mit Siebdruck. Sonntags arbeitete sie mit jenischen Kindern, die «Karrner» genannt wurden und auch unbedingt in die Werkstatt wollten. Hinter dem Kinderdorf gab es eine große jenische Siedlung, die Leitung des Kinderdorfes wollte aber nicht, dass die Kinder sich mischten. So stand Kallir an ihrem freien Tag ebenfalls in der Werkstatt, um den jenischen Kindern Zugang zu verschaffen.

Halt in der Religion.

«Heute würde man wohl Kunsttherapie dazu sagen, damals sagte man Bastelstube», lächelt die alte Dame. Ein Holzpodest als Erhöhung unter dem Fenster, damit man aufsteigen und im Fenster sitzen kann. Alte Holzkästchen mit Muster, ein hellgrüner Stuhl. «Die Kinder waren von sechs bis dreizehn Jahre alt. Ältere Kinder mussten das Kinderdorf verlassen, denn es gab keine weiterführende Schule in Imst», erzählt sie.

Etliche Verwandte Kallirs sind im ­Holocaust umgekommen. Ihre Familie lebte ­«jüdisch-assimiliert, aufgeklärt», wie sie sagt. «Mir ist das Jüdische später immer wichtiger geworden», sagt die praktizierende Katholikin Evamarie Kallir, «die Geschichte mit dem brennenden Dornbusch zum Beispiel». Sie zitiert das Gespräch zwischen Moses und Gott aus dem Alten Testament: «Ich werde bei euch da sein, als der ich da sein werde. Das bedeutet, wir sind ihm wichtig und das geht durch alles durch. Im Grund, in der Tiefe kommen ja die Religionen alle zusammen.» Sie meint, dass die Assimilation die jüdischen Familien viel verwundbarer machte. «Sie waren nicht religiös, verleugneten das Jüdische aber auch nicht. Sie hatten keinen Halt in der Religion», so ihre These. «In der Nacht auf den 11. März 1938 war so ein Geschrei auf der Straße. Ich konnte nicht schlafen. Gegenüber bei dem Reisebüro wurden die Hakenkreuz-Fahnen gehisst. Da wusste ich, die Erwachsenen können auch nichts machen. Jetzt ist alles aus, die Kindheit aus, die Welt aus, jetzt bricht alles zusammen.»

In Amerika arbeitete Evamarie Kallir in einem Day Care Center mit Kindern von arbeitenden Müttern. «Ich wollte mit Kindern sein, mein Leben mit Kindern verbringen. Man spürt ja, was man machen will. Das habe ich geschafft», resümiert sie.