Ich ziehe meine Linien und schreibe GürtelzeilenDichter Innenteil

Zu Fuß, schreibend und fotografierend, bewege ich mich entlang des ehemaligen Linienwalls und der heutigen Bundesstraße 221. Der Gürtel, eine Stadt–landschaft für sich – wäre er nicht so befahren, ein richtig schöner Stadtboulevard durch 13 Bezirke.

Text & Fotos: Brigitta Höpler

Im November 2020, der plötzlich durch eine Verordnung zur Eindämmung des Coronavirus leer wie ein weißes Blatt Papier vor mir liegt, gehe ich also den Gürtel ab. Schon die Worte «Ausgangssperre» und «die Wohnung nicht verlassen» senken die Decke, lassen die Wände näher rücken und die Räume schrumpfen. Nein, ich bleibe sicher nicht zu Hause. Aber ich halte mich an die Beschränkungen, die offenbar im Moment sein müssen, um die Infektionszahlen zu senken. Ich durchstreife die Stadt ohnehin am liebsten alleine.
Mit meinen Schritten ziehe ich meine Linien in der Stadt, unsichtbare Fäden verweben sich. Die Sprache, wie die Stadt hat etwas von einem Gewebe, etwas Textiles (texere, lateinisch, verbinden, verweben, verknüpfen).
Fußbewegung
Gedankenbewegung
Gemütsbewegung
Handbewegung
Eine Übersetzung in Schrift.
Von etwas Gesehenem, Erinnertem, Gedachtem, Gehörtem, Gespürtem, Gerochenem, Fantasiertem, Geträumtem.

Landstraßer Gürtel

Fehlende Fensterscheiben, heruntergefahrene Rollläden. Daneben bringt das Lokal Aguacate «den Geschmack von Venezuela nach Wien». Vielversprechend wie ein Schönheitssalon im Freiheitshof, an der Fassade Bilder vom Ballonaufstieg 1784. Mir fällt das kitschige Lied von Reinhard Mey ein, … über den Wolken …, aber bei der Freiheit hier geht’s um den Staatsvertrag, der ganz in der Nähe, im Oberen Belvedere, unterzeichnet wurde.
Nach der Bahnüberquerung nur mehr Plakatwände. Dahinter eine weitläufige Wiese, Sträucher, alte Bäume. Stadtlücken. Gstettn. Geheimnisse. Die Ankündigung, dass hier in der Form eines «Village im Dritten» Neues entsteht, klingt bedrohlich. Dafür umarmt mich McCafé von innen.

Wiedner Gürtel

Der Wiedner Gürtel gehört zu meinen Erinnerungswegen. Ich schaue auf den Erste Campus und sehe den ehemaligen Südbahnhof, Knotenpunkt meiner Süd-Ost-Sehnsucht. Sehe die Bahnhofshalle mit dem Markuslöwen, höre das Klicken der «blinkenden Augen» (Computerinstallation von Kurt Hofstätter), denke an das Bahnhofsrestaurant Rosenkavalier mit seiner Terrasse, wo Friederike Mayröcker und Ernst Jandl gerne gesessen sind, um in der eigenen Stadt wie auf Reisen zu leben.
Es war der Südbahnhof, wo mir 1992 der Jugoslawien-Krieg unter die Haut kroch, mit dem Gefühl, dass Sicherheit eine Illusion ist und wir alle jederzeit Flüchtende sein könnten. «Die Nachbarn in Not» aus Bosnien wurden damals noch gerne in Österreich aufgenommen …
Die Bibliothek der Erste Stiftung ist einer meiner Schreiborte in der Stadt. Von dort aus lese ich mich in den Südosten: Marko Dinić, Saša Stanišić, Marica Bodrožić, Sandra Gugić …

Margaretengürtel/Gaudenzdofer Gürtel

Der Gürtel führt immer noch entlang der Bahn, vorbei am Matzleinsdorfer Hochhaus aus den 1950er Jahren, – Kindheitserinnerungen an Kaffeetrinken mit den Großmüttern und staunendes Schauen im 20. Stock.
Eine Reparaturwerkstätte für graphische Maschinen (was würde die Künstlerin und angewandte Sprachumstellerin Natalie Deewan für ein wunderbares Anagramm daraus machen!), die erste österreichische Profi Schach Föderation, geschlossene Rollbalken, viele Leerstände. Zwischen dem fünften und dem zwölften Bezirk die Gürtelwiesen, Fußballkäfige mit der Aufschrift freedom und der Stadtwanderweg 11.
«Gemeindebau goodlife» steht schwarz auf weiß gekritzelt an der Wand des Metzleinstaler Hofs. Schräg gegenüber «Wohnen seit 1919» – der rote Schriftzug von Marko Lulić als Denkmal für «100 Jahre Gemeindebau», als Bekenntnis zu durchaus zeitloser Lebens- und Wohnqualität in der Stadt. An der Hauskante des Franz-Domes-Hofs erhebt ein steinerner, nackter, wohlgeformter Jüngling den Kopf und die Arme: «Licht in den Wohnungen, Sonne im Herzen» ist darunter zu lesen.
Kein Wunder, dass dieses Gürtelstück «Ringstraße des Proletariats» genannt wurde. So rückwärtsgewandt wie die Architektur der historistischen Ringstraße sind auch die monumental-expressiven «Volkswohnpaläste» in ihrer Gestaltung. Dass es anders geht, zeigt der Leopoldine-Glöckel-Hof, nach Plänen von Josef Frank. Schlicht, klar, kein Dekor. Einer meiner Lieblingsgemeindebauten in einer Stadt, in der sich die Moderne in der Architektur nie so richtig durchgesetzt hat.

Sechshauser Gürtel/Gumpendorfer Gürtel/Mariahilfer Gürtel

Unter der «Brücke über die Zeile» überquere ich den Wienfluss. Ich wusste gar nicht, dass die Otto-Wagner-Brücke so genannt wird. Die Bezeichnung ist schön, regt meine Fantasie an, was im Text eine Brücke über die Zeile sein könnte …
Der Gürtel wird mit den besiedelten historischen Stadtbahnbögen bis zur Gumpendorfer Straße sozusagen vierzeilig, was die Fassaden betrifft. Salon für Garderobeplanung, Schnittbogen – Werkstatt für Textil und daneben eine für Autos. Viel Street Art an den Rollbalken, teils bekannte Namen.
Das Café Lepa Brena (benannt nach einer bekannten jugoslawischen Pop-Sängerin) lädt zur bereits vergangenen bosnischen Nacht, zwei Häuser weiter hat das Café Novi Beograd auch gerade geschlossen, nur die vielen Baustellen sind in Betrieb.
Das Hotel Ibis ist zurzeit wahrscheinlich genauso leer wie die Kirche Maria vom Siege, und auch Mona Lisa wird nicht viel Braut- und Abendmode verkaufen, selbst wenn es «20 % auf alles» gibt.

Neubaugürtel

Diesen Gürtelabschnitt würde ich üblicherweise im Café Westend beginnen, mit Espresso, mürbem Kipferl, Blick auf die lichtdurchflutete Halle des Westbahnhofs inklusive Erinnerungen an Nachtfahrten nach Paris mit dem Orient Express. Aber es ist Lockdown und Reisen in weiter Ferne.
So trinke ich den mitgebrachten Tee in der Sonne, auf den Stufen zur Hauptbücherei, knapp unter dem Café Oben. Um mich herum Stadtrauschen. Die beiden Schriftbilder ECHO des Künstlers Heinz Gappmayr seitlich an den Bibliotheksfassaden. Ich mag dieses Gebäude, es wirkt wie ein Ozeandampfer im Häusermeer.

Lerchenfelder Gürtel

Keine Chance, im Café Weidinger kurz aus der Zeit zu fallen und zu verweilen, da muss ich mich schon «in eine Zeile lehnen wie in eine Sofaecke» (Elfriede Gerstl).
«Wir sind wegen Corona zu», so ist auf den Türen der Shisha Bars, Sex Clubs, Friseure zu lesen. Billiger telefonieren und Geldtransfer sind möglich. Die Dauer des Geschlossenseins ist nicht bei allen Geschäftslokalen so klar zu erkennen, viele sind komplett zuplakatiert.
Andere Häuserwände sind wie Collagen, wieder und wieder überschrieben. «Knabenhosen» lässt sich gerade noch lesen.

Hernalser Gürtel

Ein übergroßer Mann mit pinkem langem Mantel, die Hände in den Taschen, Sonnenbrille, zerzauste schwarze Haare beobachtet das Gürtelgeschehen. Direkt auf die Hauswand gemalt und gesprüht von Golif, einem österreichischen Künstler.
Ganz in Blau das Hotel Donauwalzer, das «für Geschäftsreisende, Arbeiter und dringenden Wohnbedarf offen hat» in diesen Lockdowntagen. Die Rollbalken unten bei den meisten Stadtbahnbögen, von einem Schildermaler erzählt noch sein Geschäftsschild.
Die ersten Weihnachtsmänner tauchen an den Fenstern auf, und Lichtergirlanden in den Bäumen. Für das Leben auf der Straße in der Kälte ändert das wenig … auch nicht für die Menschen im martialisch anmutenden Asylamt und Polizeianhaltezentrum, im Gebäude des ehemaligen k. u. k. Garnisongerichts.

Währinger Gürtel

Spätestens in diesem Gürtelabschnitt zweifle ich kurz an meinem Projekt, diese dermaßen befahrene Straße entlang zu gehen, zu schauen, zu fotografieren. Das Otto-Wagner’sche Sonnenblumengeländer begleitet mich auf den Stadtbahnbögen. Die Autos rasen vorbei, die Luft ist schlecht. In den Häusern kaum Geschäfte oder Lokale. Das AKH dominiert diesen Gürtelabschnitt, samt Rettungsfahrzeugen und Hubschrauber.
Mir gefällt der Bahnhof der Wiener Linien, und dahinter der jüdische Friedhof. Eine Pause in der Kaffeerösterei Blaustern wäre angenehm, die Hände zu wärmen, um wieder schreiben zu können.
Lagerräume sind zu mieten, und ein Gasthaus dazu. «King» hinterlässt überall seinen Schriftzug. An das Geschäft im Bogen bei der Volksoper erinnere ich mich noch, «Koffer, Mappen, Brieftaschen, Lederwaren für Urlaub, Reise und Sport». Und wieder frage ich mich, nach wem das «Haus Zakeri» benannt ist. Beinahe versteckt findet sich eine der wenigen erhaltenen Linienkapellen, St. Johannes Nepomuk. Rektor der Kapelle ist ein weitgeistiger und ungewöhnlicher Priester, der Philosoph, Jurist und Theologe Werner Reiss.

Döblinger Gürtel

Dieses kurze Gürtelstück ist mir bis jetzt entgangen, es bietet allerdings drei eindrucksvolle Gemeindebauten aus den 20er Jahren. Besonders angetan hat es mir der geduckte steinerne Mann, langsam von Efeu bewachsen. Er wirkt sehr entspannt, obwohl er schwer trägt. Ein Anklang an die Atlanten, die Trägerfiguren in der Architektur, wiederum ein Anklang an Atlas, der in der griechischen Mythologie das Himmelsgewölbe stützt. 

Brigitta Höpler, geboren 1966,
lebt und arbeitet in Wien
Kunsthistorikern, Autorin, Schreibpädagogin
Arbeitsschwerpunkte sind Schreib­raum Stadt, Schreiben transmedial, Poesienahversorgung.
Zahlreiche Projekte, Texte und Veröffentlichungen rund um Kunst, Stadt und Schreiben.

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