Über eine Wanderung ohne Berge, dafür mit einem Loch
«Wie lässt sich ein Loch beschreiben?», fragt der Brüssler «Walking Artist» Bruno de Wachter. Und gibt auch eine Antwort: indem sein Rand beschrieben wird. Das tat er in Wien gemeinsam mit drei interessierten Augustin-Autoren. Aufgezeichnet von Peter A. Krobath.
«Here is your captain speaking», sagt Bruno De Wachter am Bahnhofsvorplatz von Fischamend und erklärt Robert, Klaus und mir die Regel Nr. 1 für die bevorstehende, 26 Kilometer lange Umwanderung des Flughafens Wien-Schwechat: Ignoriere den Flughafen und die Flugzeuge! Tu so, als würden sie nicht existieren! – Regel Nr. 2: Die Handys werden auf die Ortszeit umgestellt, also die Sonnenzeit vor Ort. Und schon können wir losgehen, natürlich gegen den Uhrzeigersinn.
Fischamend ist ein 5000-Nasen-Städtchen an der Donau südöstlich von Wien und hat einen großen blauen Fisch im Wappen und einen goldenen, der auf der Spitze des Stadtturms auf Wetterhahn macht. Der Stadtturm selbst sieht wie eine Weltraumrakete aus, die nie abgeschossen wurde, weil sie zu dick geraten ist.
Karpfenamend.
Ein Bauernmarkt. Robert kauft Zwetschken. Ein Storchennest im Leerstand. Am Getreideplatz findet gerade ein Oldtimer-Treff statt. Klaus fällt eine Nummerntafel auf: «HL-ADI1». «Heil Adi: Nostaligia» werden wir im Nachhinein das betreffende Foto betiteln. Auch das ist eine Besonderheit unserer Fußreise: Wir denken uns neue Orts- und Flurbezeichnungen aus und (er)finden zu den alten Namen Geschichten.
Bei der Durchquerung des Ortes Richtung Donau stoßen wir auf Gedenksteine und -tafeln für «Helden» und Opfer (vor allem eines Fliegerangriffs 1944), und auf dem Pfeiler einer Autobahnunterführung auf ein Spraydosen-DIY-Mahnmal: «Nazis Raus!»
Das erste Viertel der Wanderung führt durch den Nationalpark-Auwald zwischen Donau und Schwechat-Mündung. Ein Treppelweg, «fake roman road». Pappelriesen und Kletterpflanzen. Klaus als Tarzan. Dickicht aus Hollerbüschen und Brombeerhecken. Ein Baum mit Hopfen-Burka. Auf einer Auwiese ein Reh, von zwei Hochständen belauert. Ein toter Spatz, «Spatz gehabt». Fischerhütten auf Piloten. Ein Fischer beim Rasenmähen: Hier gebe es vor allem «Friedfische», 90 Prozent Karpfen. Eine der Hütten hat sich mit blauen Holzschuppen als Fisch verkleidet. Karpfenamend.
Auch der Himmel ist blau. Das weiße Gekritzel der Kondensstreifen versuchen wir auszublenden. Weit schwieriger zu ignorieren ist der jetzt am späten Vormittag im Minutentakt direkt über uns hereinbrechende Himmellärm. Robert und ich wagen einen Blick. Unsere Rechtfertigung: Regeln haben keinen Sinn, wenn sie keiner bricht.
Ein gelbes Schild zeigt an, dass wir uns nicht nur auf einer Flughafenumwanderung, sondern gleichzeitig auf dem «Jakobsweg Österreich» befinden. Robert weist darauf hin, dass das dazugehörige Piktogramm jenem für eine WLAN-Verbindung gleicht – Gott und das Internet, die zwei Allgegenwärtigen.
Frau am Kreuz.
Am Ende der Au, von Kastanienbäumen geschützt, ein Steinmarterl aus dem Jahr 1752, gewidmet der Heiligen Kummernuß, einer in halb Europa verehrten Volksheiligen. Von der Kirche wurde sie nur geduldet, nie anerkannt. Warum, lässt sich schnell erkennen: eine Frau am Kreuz! Mit einem Bart! Laut Legende war die Heilige Kummernuß eine Königstochter, die sich vom Himmel erfolgreich einen Bart erbetete, um so der Verheiratung mit einem irdischen Mann zu entgehen. Der eigene Vater ließ sie kreuzigen. Einem an ihrem Kreuz fidelnden, kreuzfidelen Geiger schenkte sie einen goldenen Schuh. Die Heilige Kummernuß ist eine Art Blaulicht-Heilige: Sie hilft bei Notfällen, Schwangerschaftsproblemen, Überschwemmungen.
Nach der Überquerung der Autobahn haben wir wieder Asphalt unter den Sohlen. Vor uns eine baum- und heckenlose Ebene. Es weht ein anderer Wind. Uns entgegen. Das Zwetschkensackerl von Robert bläht sich. Wir heben nicht ab. Keine Seitenblicke zu dem kleinen VIP-Terminal. Von der Verkehrsinsel davor mit der unbescheidenen Beschilderung «Platz der Nationen» machen wir ein Foto. Den in der Sonne glänzenden Stacheldraht, der uns von nun an im linken Augenwinkel begleitet, missachten wir routiniert.
Feldwege. Manche Wiesen sind schon eingerollt und liegen als große gelbbraune Ballen in der Landschaft. Ein Bauer mit einem Gehörschutz wie ein Flughafenarbeiter. Die lauten Ungetüme, die wir hier nur noch mit einem Blick zu Boden aus den Augen bekommen, scheinen direkt aus Wien zu kommen. Am westlichsten Punkt der vieleckigen Umrundung fordert uns Bruno zu einer 22-Sekunden-Meditation auf, damit wir mit der Sonnenzeit wieder ins Reine kommen. Als Mandala müssen die Schlote, Rohre und Tanks der Raffinerie Schwechat herhalten.
Für den Schriftsteller und Wanderkünstler Bruno De Wachter ist Wien-Schwechat bereits der siebente europäische Flughafen, den er mit interessierten Einheimischen umkreist. Drei weitere sollen folgen. Beim Flughafen Paris Charles den Gaulle dauerte die Umwanderung (49 km) zwei Tage. Flughäfen sind für De Wachter ein besonderer Typ von Nichtorten, eine immergleiche internationale Architektur, austauschbar, ohne Bezug zu der sie umgebenden Landschaft, außerhalb von Raum und Zeit, lärmende Schwarze Löcher.
Sonnenblumen mit Burnout.
Picknick in Gugelkirchen. Keine Kirche weit und breit. Auf einer 100 Meter entfernten Landstraße fährt die Polizei zwei Mal vorüber und lässt uns in Ruhe. Wir sind ein wenig enttäuscht darüber, so en passant als harmlos eingeschätzt zu werden.
Wir kommen am Katharinenhof vorbei. Sollte die umstrittene dritte Flughafenpiste im «Blinden Tal» gebaut werden, würde das alte Landwirtschaftsgut vom Schwarzen Loch Vienna International Airport aufgesaugt werden. Eine Holunder-Allee. Sonnenblumen mit schwarzen Köpfen – «Even the sunflowers have a burnout.» Von hier aus sehen wir schon die dicke Weltraumrakete von Fischamend, aber wir können nicht direkt hin, müssen erst noch die lange Startbahn umgehen. Auf einem alten Betonweg breiten wir die Arme aus und nennen ihn «Dritte Piste für Arme».
Im Flughafenzaun ein paar kopfgroße Löcher, wahrscheinlich von Plane-Spottern reingeschnitten. Ein solcher Flugzeug-Fotograf begegnet uns dann auch, ein Asiate, der extra nach Wien geflogen ist, um hier startende und landende Flieger zu fotografieren. Etwas später ein offiziell eingebautes Zaunloch für ein Kameraobjektiv, das von innen mit einer Klappe verschlossen werden kann: Auch Flugzeuge brauchen dann und wann Privatsphäre.
In einem Café in Schwadorf erklärt uns ein gebürtiger Oberösterreicher, dass nur das Erklimmen von Bergen die Bezeichnung Wandern verdiene. In Klein-Neusiedl eine Kellergasse, die den Fußballplatz von seiner Fantribüne trennt. Und eine Katharinenhofstraße, die nach 500 Metern am Flughafenzaun endet.
Obwohl wir schon über 20 Kilometer in den Beinen haben, müssen wir nun, am östlichsten Punkt der Umwanderung, unser Tempo beschleunigen, um 24 verlorene Sekunden aufzuholen. Wieder am Bahnhof Fischamend vermeditieren wir zwei Sekunden, womit die Regel Nr. 2 lückenlos befolgt ist. Zur Regel Nr. 1 sei noch erwähnt, was von Anfang an klar war: Der Flughafen und die Flugzeuge sind einfach zu monströs, um sie wirklich ignorieren zu können.