«Ihr Respekt»vorstadt

Lokalmatadorin Nr.414

Barbara Bimüller wird bald 100 Jahre alt sein.

Sie ist eine aufmerksame Zeugin unserer Zeit.

Von Uwe Mauch (Text) und Mario Lang (Foto)

Geboren wurde sie noch in der Monarchie. «Genau gesagt am 29. August 1918», weiß Barbara Bimüller. Sie ist eine von 250 Bewohner_innen in einem städtischen Senior_innen-Wohnhaus in Kaiserebersdorf. Geboren wurde sie in einem kleinen Dorf an der kroatisch-ungarischen Grenze.

Dort, weit abseits der Wirren des Weltkriegsendes, sollte sie in Ruhe zur Welt kommen. Im Kreise der erweiterten Familie, wie Frau Bimüller sogleich erläutert: «Meine Großeltern waren zur Jahrhundertwende aus Südmähren, einem Dorf hinter Laa an der Thaya, nach Kroatien gezogen, um dort billig Land zu kaufen und als Bauern über die Runden zu kommen.»

Fünf Wochen nach der Geburt kamen Mutter und Tochter nach Wien. «Doch die Bande zu den Verwandten in meinem Geburtsort sollten nie abreißen.»

Aufgewachsen ist die Frau, die in wenigen Tagen 100 Jahre alt wird, in einer Wohnung an der Simmeringer Hauptstraße. «Dort, wo jetzt der McDonald’s drinnen ist. Das Haus gehörte einem Onkel meiner Mutter.»

Ihr Vater, Jahrgang 1888, war ein gelernter Schmied. Ein Bekannter habe ihn zur Straßenbahn gebracht: «Er war dort als Fahrer und auch als Schaffner im Einsatz.» Ihre Mutter, Jahrgang 1896, habe derweil den Haushalt organisiert: «Sie kümmerte sich um mich und um meine um sieben Jahre ältere Schwester.»

Die Erste Republik und ihren Niedergang erlebt Barbara Bimüller als Schülerin: Nach der Mädchen-Volksschule in der Braunhubergasse besucht sie die Hauptschule und die Bundeslehranstalt für Pädagogik. Schon vor dem Eintritt in die Volksschule hegt sie einen klaren Berufswunsch: «Ich habe mit den Freundinnen oft Schule gespielt.»

Gegen die Nazis

Bei Hitlers Einmarsch im März 1938 ist sie noch Teenager: «Meine Eltern waren alles andere als begeistert über den Nationalsozialismus. Ich wurde aber immerhin anstandslos im Schulwesen angestellt.» Vier Jahre später verlangen die NS-Vorgesetzten von ihr, dass sie Parteimitglied wird. «Da wurde es ein bisserl eng für mich», beschreibt Frau Bimüller ihren stillen und doch sehr mutigen Akt des Widerstands. «Ich habe mich daher versetzen lassen, in die Nähe von Belgrad, wo ich in der Lehrerausbildung Aufnahme fand. Mein Glück war damals auch, dass die linke Hand des Regimes nicht wusste, was die rechte Hand gerade macht.»

Das Ende des NS-Terrors sehnt sie als Lehrerin im besten Alter herbei, in der Volksschule ihrer Kindheit, in der Braunhubergasse. «Das ist dort langsam alles zerbröselt. Die männlichen Kollegen wurden eingezogen, und wir Lehrerinnen mussten Hemden für den Volkssturm nähen.»

Und dann stehen plötzlich «die Russen» vor der Tür. «Mein Vater entging nur knapp einer Verhaftung, weil jemand in unserem Garten ein Gewehr der Wehrmacht vergraben hatte.» Mit dem Hinweis, mehrere Regime überlebt zu haben, erklärt die Zeitzeugin heute, dass kein Regime angenehm ist. Sie weiß auch heute noch genau, wie sich Hunger anfühlt, wie er einem weh tun kann.

Reden wir von Erfreulicherem, und das druckreif: «Meine Eltern waren dann bei der Verkündung des Staatsvertrags im Belvedere dabei. Sie kamen voller Freude nach Hause und haben mir alles erzählt.»

Endlich kann sie wieder ihren geliebten Beruf ausüben. Ihre Schüler_innen danken ihr ihr berufliches Engagement auf ihre Art: Einige kommen heute noch zu ihr auf Besuch. Eine eigene Familie gegründet – das hätte sie auch gerne, doch das ließ das blutige 20. Jahrhundert nicht zu: «Unsere Burschen mussten alle in den Krieg. Ich bin lange ein Single geblieben.»

Als überall in Europa die «68er» für mehr Freiheit demonstrieren, auch für die Gleichberechtigung der Frauen, feiert Barbara Bimüller ihren Fünfziger. Zwei Jahre zuvor hat sie geheiratet: «Einen Schulfreund, dessen erste Frau verstorben war.»

Auf die Frage, was sich im Vergleich zu ihrer Kindheit verändert hat, antwortet sie erneut in wunderbar korrekter Erzählform: «Wenn ich als Kind von zu Hause zur Schule ging, schaute meine Mutter immer aus dem Fenster. Erst auf ihr Zeichen überquerte ich die Straße. Das wäre heute wohl undenkbar.» Undenkbar ist heute auch eine Simmeringer Hauptstraße, auf der fast ausschließlich Pferde-Fuhrwerke verkehren.

Gibt es ein Rezept für ihr Alter? «Nein, es gibt kein Rezept», antwortet die Frau in ihrem 100. Lebensjahr. «Bei mir sind es die Gene. Viele in meiner Familie sind sehr alt geworden.» Die Frau ihres Neffen, die sie regelmäßig besucht, fügt leise hinzu, dass es doch ein Rezept gibt: «Ihre Dankbarkeit, ihre Demut und ihr Respekt anderen und auch sich selbst gegenüber.»

Seit dem Jahr 2009 wohnt Barbara Bimüller im «Haus Haidehof» in ihrem geliebten elften Bezirk. Die Augen und das Gehör machen ihr zunehmend zu schaffen, schränken ihren Aktionsradius ein. Dessen ungeachtet lebt sie hier noch immer weitgehend autark. Nette Nachbar_innen helfen ihr in der Früh lediglich beim Eingießen des Kaffees.

Und wie will sie ihren hundertsten Geburtstag feiern? Sie überlegt kurz, dann sagt sie nicht euphorisch: «Ach, wissen Sie, am liebsten gar nicht. Ich stehe nicht gerne im Mittelpunkt.»

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