Stadtbürger_innenschaft: Teil 2/4, Zürich
Ein Gespenst geht um in Zürich: Die Stadt arbeitet an einer «City Card», die allen Zürcher_innen etwas gleichere Rechte verschaffen soll – unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus. Die Idee wurde von Aktivist_innen entwickelt, hat Noëmi Landolt vor Ort erfahren.
Foto: Guido Henseler (guidovideo.ch)
«Mir gibt es ein Fünkchen Hoffnung», sagt Luisa Santos (Name geändert) und blickt auf ihren Notizzettel. «Hoffnung auf wenigstens ein bisschen Normalität. Ins Kino gehen zu können. Ohne Angst vor einer Billetkontrolle Tram fahren zu können. Teilzuhaben an dieser Gesellschaft. Und vor allem, dass meine Existenz anerkannt wird.»
An diesem verschneiten Samstagabend in Zürich, bei einem Treffen des Colectivo Sin Papeles in der Misión católica de lengua española, wird über die City Card gesprochen. Ein gutes Dutzend Menschen sitzt um den Tisch. Die meisten von ihnen leben ohne Papiere in der Schweiz, die meisten sind Frauen aus Lateinamerika. Und nicht alle kennen die Idee der City Card, die seit gut einem Jahr durch die Stadt geistert. An deren Realisierung eine Gruppe von engagierten Menschen hartnäckig und kontinuierlich und am liebsten im Hintergrund arbeitet.
Vorbild: New York
Die City Card soll Bewohner_innen der Stadt Zürich zukünftig als Stadtbürger_innen ausweisen. Unabhängig von deren Staatsangehörigkeit und vor allem auch unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus. Das Vorbild: New York. Seit Anfang 2015 gibt es dort die «NYCID». Wer in New York wohnt, älter als 14 Jahre ist und seine Identität belegen kann, erhält einen solchen Ausweis (nachzulesen in Augustin Nr. 428). Nun ist Zürich bekanntlich nicht New York, die Schweiz nicht die USA. Es gibt bereits einige Errungenschaften, die dank der Hartnäckigkeit und dem Verhandlungsgeschick solidarischer Menschen und Organisationen erreicht wurden. In der Schweiz dürfen Kinder von Sans Papiers bis zur Matura die Schule besuchen und nach der Überwindung einiger administrativer Hürden auch eine Lehre machen (was freilich nicht bedeutet, dass sie nachher auch eine Arbeitsbewilligung erhalten). Sie können sich in Spitälern behandeln lassen, ohne dass die Migrationsbehörden benachrichtigt werden. Sie können eine Krankenversicherung abschließen, in manchen Städten wird ihnen gar mit einer Prämienverbilligung unter die Arme gegriffen. Doch die geschätzt 80.000 bis 200.000 Sans Papiers in der Schweiz leben nach wie vor prekär. Eine wirkliche Teilhabe am sozialen, kulturellen und geschweige denn am politischen Leben ist ohne Aufenthaltsbewilligung nicht möglich. Die Angst vor einer drohenden Abschiebung bestimmt das Leben weitgehend.
Die ganze Welt in Zürich
Entstanden ist die Idee der Zürcher City Card vor gut eineinhalb Jahren im Rahmen des Projektes «Die ganze Welt in Zürich» der Shedhalle Zürich. In dieser politischen Kunsthalle fand seit Sommer 2015 auf verschiedene Weisen die Auseinandersetzung mit «Urban Citizenship» statt, und es wurde nach Möglichkeiten gesucht, die Idee einer Stadtbürger_innenschaft für alle in Zürich lebenden Menschen konkret umzusetzen. Dabei ging es nicht nur um Solidarität mit Sans Papiers, sondern um ein grundsätzliches Verständnis von Demokratie. Katharina Morawek, Kuratorin der Shedhalle, erzählt: «Wie demokratisch kann ein Land sein, in dem 25 Prozent der Bevölkerung kein Stimmrecht haben, wie in der Schweiz? In unserem Projekt geht es um nichts Geringeres als die konkrete Umsetzung eines ‹Rechts auf Rechte›, das so vielen von uns bis heute verwehrt bleibt, weil sie den falschen Pass oder eine bestimmte Hautfarbe haben. Unsere Zielsetzung blieb dabei immer die permanente Ausweitung, die Demokratisierung der Demokratie.» Die Stadt kann dabei ein Ort des Widerstands gegen die nationale Politik sein, an dem Migration nicht länger als Problem, sondern als Realität anerkannt und verhandelt wird.
Bottom-up-Aktion oder Lobbyarbeit?
Am 9. Februar 2016, genau zwei Jahre nach Annahme der sogenannten «Masseneinwanderungsinitative», fand in der Shedhalle das Stadtforum «Wir alle sind Zürich» statt. Die erklärte Absicht war, der fremdenfeindlichen Schweizer Migrationspolitik etwas entgegenzusetzen, eigene Strategien zu entwerfen und zu erproben; «etwas Neues» sollte entstehen, «eine neue Stimme, ein neues breit aufgestelltes und nachhaltiges Forum zur demokratischen Gestaltung unserer Stadt».
Aus dieser Veranstaltung mit über 500 Besucher_innen gingen drei Arbeitsgruppen hervor, die sich je mit den Themen Diskriminierungsfreiheit, Teilhabe und Aufenthaltssicherheit befassten. In der letzteren konkretisierte sich die Idee einer Zürcher City Card, nach dem Vorbild New Yorks. Seither ist die AG stetig gewachsen. Dabei sind mittlerweile Mitglieder des Stadtparlaments, der städtischen Asylorganisation Zürich, der Autonomen Schule, der Sans-Papier-Anlaufstelle, der Rechtsberatungsstelle Freiplatzaktion, der Kirchen sowie des städtischen Ausländerbeirats, der sich ebenfalls mittlerweile schon seit bald zwei Jahren mit einer Idee der City Card befasst.
Auch die Vorgehensweise hat sich seither verändert. In der Shedhalle dachte man ursprünglich an einen breit angelegten öffentlichen, eben demokratischen Prozess. Ein Bottom-up-Ansatz sozusagen. «Auch in der AG überlegten wir uns, einfach selbst Realitäten zu schaffen. Die Karte als Verein einzuführen, bis wir so viele Mitglieder haben, dass die Stadt sich gezwungen sieht, die City Card als Ausweis zu akzeptieren und vielleicht sogar zu übernehmen», erinnert sich Samuel Häberli von der Freiplatzaktion Zürich. «Ich halte das immer noch für einen sehr reizvollen Ansatz. Aber gleichzeitig geht es um die Aufenthaltssicherheit von Menschen ohne Papiere. Damit darf man nicht experimentieren und sie ans Messer liefern.» So hat sich die AG der vielleicht weniger interessanten, aber vermutlich zielführenderen Lobbyarbeit im Hintergrund bei Stadtverwaltung und -parlament verschrieben. Erste Gespräche haben bereits stattgefunden. Über deren Inhalt ist öffentlich noch nichts bekannt.
Eine Karte für alle
Es gilt auf jeden Fall noch viele Fragen zu klären. Zum Beispiel: Was soll die Karte können? Lässt sich damit beispielsweise ein Konto eröffnen? «Aus Gesprächen mit Betroffenen und der langjährigen Erfahrungen, die wir bei der SPAZ haben, schälte sich heraus, dass die wichtigsten Punkte die Aufenthaltssicherheit und das Wohnen sind», sagt Bea Schwager von der Sans-Papiers-Anlaufstelle SPAZ. Bisher können Sans Papiers selbst keine Mietverträge unterzeichnen. Sie wohnen meist unregistriert zur Untermiete und müssen teils willkürliche und völlig überrissene Mietzinsen bezahlen, ohne dass sie rechtlich dagegen vorgehen könnten. Marisol Fonseca (Name geändert) vom Colectivo Sin Papeles kennt die Situation nur zu gut. In den 17 Jahren, die sie in Zürich lebt, ist es mehr als einmal vorgekommen, dass sie in ein Zimmer zog, das ihr für 300 Franken angeboten worden war und wofür ihr schließlich über tausend Franken abgeknüpft wurden. Doch auch die seit Jahren steigenden regulären Mietpreise drängen Leute mit niedrigem Einkommen zusehends aus der Stadt in die Agglomerationsgemeinden, obwohl sie weiterhin in Zürich arbeiten. «Welchen Anspruch haben also Menschen, die in der Agglo wohnen, deren Lebensmittelmittelpunkt aber in der Stadt liegt? Würden die vom Besitz der City Card ausgeschlossen?», fragt Bea Schwager.
Die Karte soll – es liegt auf der Hand – nicht nur für Sans Papiers, sondern für alle Bewohner_innen Zürichs attraktiv sein. Es geht also darum, den Interessentenkreis zu erweitern. «Eine Idee wäre beispielsweise, dass die Karte keine Angabe über das Geschlecht der Person enthält», so Schwager, was für queere, trans* und inter*sexuelle Menschen interessant sein könnte. Möglich wäre auch eine Verknüpfung mit der heute schon bestehenden «Kulturlegi», die Leuten mit geringem Einkommen verschiedene Vergünstigungen anbietet, vom Museums- und Hallenbadeintritt bis zum Zeitungsabo.
Das Wichtigste ist jedoch, dass die Polizei die City Card als Ausweis akzeptiert. «Das ist das Kernstück. Wenn bereits die Stadtpolizei die Karte nicht akzeptiert, dann wird sie für Sans Papiers kaum Sinn machen. Und gleichzeitig ist genau das am schwierigsten zu realisieren», sagt Samuel Häberli. Selbst wenn die Stadtpolizei die City Card akzeptieren sollte, gibt es noch die Kantonspolizei, die zum Teil ebenfalls auf Stadtgebiet tätig ist und kantonalem Recht untersteht. Doch es gibt Argumente, die auch die Polizei überzeugen könnten. Bea Schwager erzählt die Geschichte einer Klientin, die Opfer eines Gewaltverbrechens wurde. Obwohl der Täter bekannt war, zeigte sie ihn nicht an, aus Angst, selbst verhaftet und ausgeschafft zu werden. «In Los Angeles gibt es mittlerweile so viele solche Fälle, dass die Polizei aufgehört hat, nach dem Aufenthaltsstatus zu kontrollieren. Weil sie sonst ihrer Hauptaufgabe – der Verbrechensbekämpfung – überhaupt nicht mehr nachkommen kann.»
Kleines Lichtlein am Horizont
Das Anliegen ist mittlerweile ans Präsidialdepartement der Stadt gelangt. Dessen Sprecher Nat Bächtold lässt ausrichten, dass demnächst im Auftrag der Stadtpräsidentin eine Arbeitsgruppe eingesetzt werden soll, die sich damit befasst, ob und wie eine City Card realisiert werden könnte.
«Zürich ist schwanger mit der Idee», sagt Marisol Fonseca. «Ich bin sehr gespannt auf das Baby, ob es gesund sein und alleine laufen können wird.» Und Luisa Santos fügt hinzu: «Es ist ein kleines Lichtlein am Horizont. Es bedeutet nicht, dass wir frei sind. Aber es ist ein Schritt in Richtung einer Regularisierung. Es bietet uns ‹seguridad en la ilegalidad› – Sicherheit in der Illegalität.»
«Sanctuary City» – eine Stadt als Zufluchtsort?
In der nächsten Nummer verschlägt es uns ins kanadische Toronto.