Im besten Hotel Europastun & lassen

Athen: ein Straßenzeitungstreffen und vierhundert selbstorganisierte Flüchtlinge

Das «Internationale Netzwerk der Straßenzeitungen» tagte diesen Sommer in Athen. Die Metropole der europäischen Krisenpolitik floriert auf ihre ganz eigene Art. Lisa Bolyos ist im «besten Hotel Europas» abgestiegen und hat sich die Stadt von dort aus angesehen.

Foto: infomobile.w2eu.net

In der Metro wird Musik gespielt, ein Mann quetscht sich durch die eng an eng geschlichteten Fahrgäste, er verkauft Kugelschreiber und Schlüsselanhänger. Später Nachmittag in Athen, Stoßzeit; durch die Stationslautsprecher wird angekündigt, dass heute nach 21 Uhr keine Metro mehr fährt, «aufgrund eines Streiks der Angestellten». Nächste Station Victoria. Durch einen kleinen Park und eine Seitengasse geht es zur stadteinwärts führenden Acharnon, einen Block nach links und ich stehe vorm City Plaza. Ein siebenstöckiges Hotel, orangefarben der Name im Schriftzug der Siebzigerjahre. Steinstufen führen zur Rezeption, rechts davon ein Brunnenimitat, auf dessen Rand eine alte Frau sitzt, in Weiß gekleidet, sie winkt mir zur Begrüßung zu. Hinter der Rezeptionsbudl junge Leute in schwarzen Hoodies. Welcome to City Plaza, dem besten Hotel Europas!

Leben im Hotel: das City Plaza

«Kein Pool, keine Minibar, kein Zimmerservice», wirbt die Unterstützungskampagne. Auf einer Website kann man qua «Zimmerbuchung» Geld überweisen, Zimmer bekommt man dafür aber keines. Lüften wir das Geheimnis: Seit April ist das City Plaza eine selbstorganisierte Unterkunft für Flüchtlinge. Unterstützt von Athener Aktivist_innen leben hier vierhundert Menschen auf sieben Stöcken, ob das Luxus ist, ist eine Frage der Perspektive: Die Zimmer sind klein und werden geteilt, aber es sind keine witterungsempfindlichen Zelte auf schlammigem Boden, keine Polizistin reißt ungefragt die Tür auf, ärztliche Versorgung ist vorhanden, es gibt Sprachunterricht. Das Essen wird selbst gekocht, die große Hotelküche ist ideal dafür, im Plenum wird Organisatorisches besprochen, Teenies kehren die Gänge, es gibt Kinderprogramm, neuerdings auch Yogastunden am Flachdach und einen Friseursalon! Aber dazu später. Kinder sind hier unzählige, hundertachtzig, sagt Olga bei der Rezeption und lacht dabei mit einem Anflug belustigter Verzweiflung, sie laufen durch die Gänge, kleine Banden von ganz normalen Wildgewordenen, die drei, vier Sprachen sprechen, Hello Madam!, rufen sie mir zu, um dann auf Griechisch und Arabisch miteinander zu tuscheln.

Nein, sagt Olga, die Besitzerin sei nicht sehr begeistert von diesem Projekt. Sie habe das Hotel sieben oder acht Jahre leer stehen lassen und meint jetzt, sie hätte es eh verkaufen wollen, sei ein Krisenopfer, aber man müsse sich nicht allzu große Sorgen um sie machen, denn sie besitze zwei weitere Hotels. Privaten Leerstand umzunutzen sei selbst in den eigenen Kreisen umstritten: «Die Leute sagen, hättet ihr doch ein Haus im Besitz der Stadt besetzt.» Aber das City Plaza ist zugegebener Maßen ideal. Die Türen waren bereits offen, weil andere es in den letzten Jahren als Unterkunft benutzt hatten. Man musste also nur reinspazieren, ein paar Zimmer putzen und neu eröffnen; Strom organisieren und täglich das viele Essen – das allerdings ist eine richtige Herausforderung. Vierhundert Leute mal drei Mahlzeiten pro Tag, in einer Stadt, in der es keine öffentlichen Fördertöpfe mehr anzuzapfen gibt, das bedarf eines organisatorischen und logistischen Wundwerks; bisher funktioniert es. Wie ein kleiner Luxusdampfer steht der Hotelturm in dieser Metropole, in der so viele dem Gestrandetsein und der Obdachlosigkeit ausgesetzt sind. Wacker halten die Bewohner_innen die Stellung in diesem Rasthaus, das bei allem politischen Anspruch ein bisschen Ruhe, ein bisschen Rückzugsmöglichkeit entlang der ermüdenden Fluchtroute bietet. «Ob die Menschen hier eine Perspektive zum Bleiben sehen oder sich ausruhen, um weiterzugehen, hängt ganz von der tagesaktuellen europäischen Politik ab. Viele der Syrer_innen sehen nach wie vor Wege, in den Norden zu kommen, sie organisieren ihre Zukunft woanders. Viele Afghan_innen melden ihre Kinder für den Herbst in lokalen Schulen an – weil sie ahnen, dass ihnen die Weiterreise versperrt ist.»

Selbstversuch im Friseursalon: Waels Geschichte

Wael schneidet Undercuts. Kunstvolle 3-D-Muster lässt er mit dem Rasierer erscheinen, färbt sie mit Henna, bunte Formen auf Kinderköpfen, ein Mädchen zeigt sich strahlend dem Vater, Babypunk. In der Warteschlange unterhalte ich mich mit jungen Burschen, ihre Frisuren wie aus dem Hochglanzkatalog, sie kämen nur zum Nachschneiden, sagen sie, Interviews wollen sie keine geben, aber ein Cola würden sie mir vom Kiosk mitnehmen, wenn ich mag. Waels Friseursalon ist täglich geöffnet. Wenn ich ihm nach Dienstschluss kurz vor Mitternacht helfe, die letzten Haarschnipsel aufzukehren, fallen ihm beinahe im Stehen die Augen zu. Wael lebt eigentlich in Deutschland, in einer Kleinstadt in der Nähe von Düsseldorf. Ein gelernter Friseur aus Syrien, um den Hals trägt er an einem Lederband einen Anhänger in Form einer silbernen Schere. Warum bis du hier?, frage ich, und er antwortet über den Sound des Rasierers: Weil das Hotel toll ist. Und weil, erzählt er später, als er mir die linke Kopfhälfte abrasiert, seine Familie im Transit des Athener Flughafens wartet. Familienzusammenführung, ein Desaster, das bereits über ein Jahr dauert. Auf dem Handy zeigt er mir mit dem begeisterten Blick sehnsüchtiger Eltern die Fotos seiner Kinder, zwei und drei Jahre alt, sie sind entzückend und großäugig, wie Kinder in dem Alter eben sind. Aber anders, als es solchen Kinder ergehen sollte, werden sie in diesem Moment von der griechischen Polizei festgehalten. Und es wird noch einige Zeit dauern, bis Wael sie wiedersehen darf.

Popstar vs. Bewegungsverräter: Yanis Varoufakis

Im Hafenstadtteil Piräus wird ein Refugeecamp geräumt. Auf der Dachterrasse des «Onassis Conference Center» sagt mir eine Fotografin, da müsse sie noch schnell hin, ein paar Schnappschüsse machen, bevor es vorbei wäre. Nein, ich komme nicht mit, ich mache stattdessen eine Runde zu Fuß durch diese riesige, wunderschöne Hauptstadt. Die Armut ist in Athen sichtbar, der Kontrast zum Tourismus frappant. Das kommt unter anderem daher, dass der öffentliche Raum nicht so rigide privatisiert wird. Es gibt Orte, von denen Bettler_innen vertrieben werden, aber das sind im Vergleich zu österreichischen Städten wenige. Menschen schlafen auf den Grünstreifen großer Plätze, strecken ihre müden Beine aus Hauseingängen, es gibt von der kaputtgesparten öffentlichen Hand wenig Infrastruktur, die sie noch stützen würde, aber auch wenig Ordnungsmacht, die sie zusätzlich sekkiert.

Nach Athen hat die lokale Straßenzeitung «σχεδια» («Shedia», übersetzt «Floß») eingeladen. Jedes internationale Straßenzeitungstreffen wird in einer anderen Stadt ausgerichtet. «σχεδια» wird in Athen und Thessaloniki verkauft. Angesichts der steigenden Armut in Griechenland möchte ich von Chris Alefantis, einem der Herausgeber, wissen, wie man dazu kommt, die Zeitung verkaufen zu dürfen: «Wer auch immer zu uns kommt, ist bedürftig und soll verkaufen könne. Die einzige Begrenzung ist, dass wir gute Verkaufsplätze finden müssen – das kann ein Weilchen dauern.»

Zur Eröffnung der Straßenzeitungskonferenz spricht der Popstar der griechischen Politik zu uns, Yanis Varoufakis. Er erzählt den Kapitalismus als eine Geschichte der Obdachlosigkeit. Jemand anderer erzählt, dass ein Hauptsponsor des Tagungszentrums, in dem wir uns befinden, mit Absprung gedroht habe, wenn Varoufakis eingeladen würde – irgendeine Bank, der Name wird nur hinter vorgehaltener Hand getuschelt. Es ist faszinierend, was in welchem Kontext als «zu radikal, zu arg» verstanden wird. Wenn ich abends den schwarzkapuzigen Aktivist_innen im City Plaza von Varoufakis erzähle, verdrehen auch sie die Augen: Ein Verräter der linken Bewegung sei er.

«Eine Flüchtlingskrise kann ich jedenfalls nicht sehen», sagt Varoufakis auf meine Frage, was er Europa empfehlen würde, um den zehntausenden obdachlosen Flüchtlingen eine Lebensgestaltung zu ermöglichen. «Ich möchte an etwas erinnern, das sich hier 1991 abgespielt hat. Der eiserne Vorhang wurde geöffnet und innerhalb weniger Monate kam eine Millionen Flüchtlinge nach Griechenland – die Hälfte davon albanisch. Das war super für Griechenland: Es ging dem Land danach viel besser. Heute sind die meisten meiner Student_innen Kinder dieser Leute.» Den Deal, den die EU mit der Türkei geschlossen hat, möchte Varoufakis kollabieren sehen. «Er wird in die europäische Geschichte als etwas eingehen, für das wir uns kollektiv zu schämen haben. Wir bestechen einen Autokraten, der ein Drittel der Parlamentarier einsperren lässt und freie Medien mit der Polizei bedroht, damit er uns hilft, internationales Recht zu verletzen.» Die jüngste Geschichte gibt ihm mehr Recht, als ihm wohl lieb ist.

Eine Party ohne Drogen: Griechenland, bleib bei uns

Olga, die an der Rezeption im City Plaza sitzt, ist Aktivistin und Akademikerin in Athen. Sie hat vor Jahren schon für den Augustin zu den Auswirkungen der Krise auf den Alltag der Durchschnittsbevölkerung geschrieben. Für die Arbeit im City Plaza riskiert sie ihre Stelle an der Universität; eine starke Entscheidung angesichts der wenigen hinreichend bezahlten Jobs, die es überhaupt gibt. «Es fällt uns leicht, mit den Flüchtlingen solidarisch zu sein», sagt sie, «Unser Leben hat mit ihrem viel mehr zu tun als mit dem der europäischen Eliten.» Chris Alefantis hat eine noch viel simplere Erklärung: «Wir umarmen die Neuangekommenen, wir lieben sie. Es ist, ganz ehrlich, überhaupt unsere liebste Freizeitbeschäftigung, irgendjemanden zu lieben!», und fügt dann lachend und nur einen Deut seriöser hinzu: «Die Krise hat niemanden Solidarität gelehrt. Wir waren schon vorher gut in Selbstorganisation. Die Krise ist nur Katalysator all unserer guten Eigenschaften. Warum der Rest Europas es nicht genauso macht, darfst du mich nicht fragen.»

Am Flug über die Ägäis sieht man mit Präzision jedes noch so kleine Boot auf der Wasseroberfläche, die in ihrem knalligen Tiefblau eher an einen Bildschirmschoner erinnert. Schlauchboote, Segelboote, Schnellboote der Küstenwache. «Da kann mir doch niemand erzählen, dass hier irgendwer ertrinken muss?», sagt die Kollegin vom Kölner Straßenmagazin «Draussenseiter» in einem Tonfall, den ich als angemessen empört empfinde. Zurück im braven, stillen Wien, wird in der Schnellbahn neuerdings vor verdächtigem Gepäck und ebensolchen Fahrgästen gewarnt. «EU ohne Griechenland ist wie Party ohne Drogen», steht auf dem Bahnsteg der Station Landstraße in großen Lettern gesprayt. Vielleicht ein bisschen verhatscht, dieser Vergleich, aber durchaus nett gemeint: Fad wär’s ohne euch.

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