Im Leben mehr Glücktun & lassen

Zehn gute Jahre im österreichischen Exil

Jorge Cafaro in Wien. Porträt eines Gewerkschafters und seiner Familie. Samt einer Reminiszenz an ein gutes Land für Flüchtlinge. Von Erich Hackl.

Foto: Christopher Glanzl

Jorge Cafaro war hier. Er kam mit dem Flugzeug, traf in Wien alte Freunde, folgte den Wegen, die er mit Ana Mango gegangen war, seiner im Vorjahr verstorbenen Frau, blickte auf das Haus in der Praterstraße, in dem sie neun Jahre lang gelebt hatten, Ana und er mit ihren Töchtern Laura und Gabriela, wunderte sich über das Touristengewühl in der Innenstadt, erschrak über die infam hohen Mieten und berichtete der Informationsgruppe Lateinamerika von den Erfolgen und Versäumnissen des regierenden Linksbündnisses Frente Amplio in Uruguay. Nach fünf Tagen reiste er ab, vom Flughafen Schwechat, der seit seinem letzten Besuch so sehr verschandelt worden war, dass er sich darin kaum zurechtfand.

Dort, in Schwechat, hatte Jorge zum ersten Mal österreichischen Boden betreten. Das genaue Datum – Donnerstag, 23. September 1976 – ist ihm ebenso deutlich in Erinnerung geblieben wie der schwerbewaffnete Polizeitrupp am Eingang zum Flughafengebäude. Das martialische Gehabe passte nicht zu seinem Bild von dem friedlichen Land im Herzen Europas, dessen Regierung sich bereit erklärt hatte, der vierköpfigen Familie und neun Landsleuten, die im selben Flugzeug angekommen waren, politisches Asyl zu gewähren.

Erst im Flüchtlingslager Traiskirchen erfuhren Jorge und Ana den Grund für die strenge Kontrolle, nämlich den Überfall auf das OPEC-Hauptquartier, bei dem im Dezember 1975 ein Terrorkommando drei Menschen erschossen und 60 Geiseln genommen hatte. Davon hatten sie in Buenos Aires, ihrem ersten Zufluchtsort, nichts mitbekommen, und wenn doch, dann im Strudel der Ereignisse wenige Monate später wieder vergessen. Denn nach dem Staatsstreich vom 24. März 1976 rückten Einsatzkommandos aus, um Oppositionelle in Folterlager zu verschleppen oder an Ort und Stelle zu liquidieren. Von der Verfolgung blieben auch die vielen Exilierten aus anderen Staaten Lateinamerikas nicht verschont. In Uruguay hatten die Militärs schon 1973 geputscht; nun arbeiteten sie in der Subversivenbekämpfung mit ihren argentinischen Kollegen zusammen. Bald hatten sie auch Jorge und seine Familie im Visier.

Verstrickt in Kämpfe.

Er ist mir immer als der Idealtyp des Gewerkschafters erschienen. Verlässlich, beständig, anspruchslos in materiellen Dingen, anspruchsvoll in Fragen der Moral. Kaum hatte er, mit 18 Jahren, in Montevideo in einer Bank zu arbeiten begonnen, war er auch schon in den Betriebsrat gewählt, bald darauf in den Ausschuss der Fachgewerkschaft delegiert worden, dann in die Arbeitskämpfe der sechziger Jahre verstrickt gewesen, in denen der wirtschaftliche Niedergang des Landes zum Vorwand für Massenentlassungen und Lohnkürzungen genommen wurde. Neben seinem gewerkschaftlichem Engagement war er in der Resistencia Obrero-Estudiantil aktiv, einer nicht nur für Lateinamerika ungewöhnlichen Organisation, weil in ihr anarchistische Tradition und marxistische Programmatik mit-

einander verschmolzen.

Jorge war im April 1974 nach Buenos Aires geflüchtet, nachdem ihn ein Nachbar gewarnt hatte, dass Armeeangehörige die leere Wohnung der Familie gestürmt hatten. Fünf Monate später folgte ihm Ana mit der dreijährigen Laura und der in seiner Abwesenheit geborenen Gabriela. Trotz der Entbehrungen bemühten sie sich, ein normales Leben zu führen. Aber nach dem Putsch mussten sie immer häufiger die Wohnung wechseln, und zuletzt blieb Jorge nichts anderes übrig, als seine Stelle in der Buchhaltung einer Gießerei zu kündigen. Sicherheitskräfte hatten dort nach ihm gefragt. Zum Glück war er gerade nicht dagewesen.

«Überhaupt habe ich», sagt er, «in meinem Leben mehr Glück als Pech gehabt.» Ein Glück war es zum Beispiel auch, dass sich ein Mitarbeiter des UN-Hochkommissariats für Flüchtlinge bemühte, die Visaerteilung für die Familie zu beschleunigen. Trotzdem dauerte es noch eine ganze Weile, bis sie erfuhren, dass ihre Einreiseanträge von Schweden genehmigt worden seien. Dass sie dann nicht dorthin, sondern nach Österreich kamen, war dem illegalen Handel geschuldet, den ein Unternehmen, das für den UNHCR die administrative Arbeit erledigte, mit den begehrten Schwedenvisa betrieb.

Klassenkameraden.

Sie bereuten es nicht. Sie merkten, wie schnell sich Laura und Gabriela in der neuen Umgebung einlebten. Außerdem betrachteten sie das Exil auch als Chance, Erfahrungen zu machen, die ihnen in Uruguay versagt geblieben wären. Schwer fiel ihnen nur die Sprache, aber sie redeten drauflos, und mit der Zeit konnten sie sich mit ihren Nachbarn und Arbeitskolleginnen verständigen. Und sie hatten ja einander. Sie genügten einander. Die Krisen, von der viele Flüchtlingspaare erfasst wurden, blieben ihnen erspart. Vielleicht lag es daran, dass sie sich schon in der Schule kennengelernt hatten, zwei Klassenkameraden, deren Liebe weder durch politische Militanz noch durch Todesgefahr noch durch das Exil zu erschüttern war.

Es ließ sich nicht vermeiden, dass sie Uruguay und Österreich miteinander verglichen. Für Österreich sprachen Ruhe, Pünktlichkeit, Sauberkeit, die öffentlichen Verkehrsmittel, die Abfallversorgung. Und natürlich die sozialen Einrichtungen, die medizinische Betreuung. An Konflikte mit Österreichern kann sich Jorge nicht erinnern. Die einzige Reiberei, die ihm einfällt, gab es bald nach der Ankunft in Traiskirchen, und zwar mit chilenischen Genossen, die der Reihe nach behaupteten, Allendes Leibgarde angehört zu haben. «Da beging ich den Fehler, laut zu fragen, ob eine Leibgarde denn nicht bis zum bitteren Ende durchhalten muss. Es kam zu einem furchtbaren Eklat, die Chilenen waren zu Tode beleidigt. Ich musste mich öffentlich entschuldigen, damit die

Sache wieder ins Lot kam.»

Mehr als einen Bleistift halten.

Ana als Putzfrau in der Krankenhausküche Mödling, Jorge in Wien als Gärtnergehilfe, Lagerarbeiter, Kellner, Verkäufer, zuletzt als Vertragsbediensteter der Länderbank: Sie empfanden ihre unqualifizierte Arbeit nicht als Zumutung, sondern als Gewinn. «Ich habe mit meinen zwei linken Händen sogar ein Zeugnis über einen erfolgreich absolvierten Schweißerkurs bekommen. Österreich hat mir beigebracht, dass ich mehr als nur einen Bleistift halten kann.»

Ein Jahr lang war die Familie im Flüchtlingsheim in der Vorderbrühl untergebracht, dann wurde ihr die Wohnung in der Praterstraße angeboten. Das Gymnasium in der Zirkusgasse, in das sie später ihre Töchter schickten, lag ganz in der Nähe. Aber zuvor, ein Jahr nach ihrer Ankunft, war Laura zusammen mit vier anderen Flüchtlingskindern in Mödling eingeschult worden. «Dreimal in der Woche», sagt Jorge, «ist die Lehrerin eine Stunde länger in der Schule geblieben, um mit den Kindern Deutsch zu üben.» Es ärgert ihn, dass er den Namen der Frau vergessen hat. Dagegen fallen ihm die der Funktionäre ein, die seine Arbeit im Solidaritätskomitee für Uruguay unterstützt und später Sozialprojekte und gewerkschaftliche Initiativen gefördert haben. Der internationale Sekretär der SPÖ, Walter Hacker, dessen Mitarbeiterin Maria Jonas, der Vorsitzende der Gewerkschaft der Privatangestellten, Hans Sallmutter. Unvergessen auch Lauras Schulfreundinnen, mit denen sie bis heute verbunden ist.

Zurückgehen, hierbleiben?

Mit dem Ende der Diktatur Mitte der 80er Jahre stellte sich die Frage, wie es mit ihnen weitergehen sollte. Zurückgehen, hierbleiben? Sie überließen die Entscheidung ihren Töchtern. Laura und Gabriela waren damals 15 und zwölf, ein schwieriges Alter, um abermals verpflanzt zu werden, andererseits kannten sie Uruguay nur von seiner guten Seite, durch Ferien bei den Verwandten, die sich rührend um sie bemüht hatten. «Ihr müsst sagen, ob ihr zurückwollt oder ob wir dableiben. Aber ihr müsst bedenken, dass wir in Uruguay nur ein Zehntel von dem Wohlstand haben werden, den wir hier haben.» Ihre Wahl fiel auf Uruguay. «Allerdings hatte ich das Gefühl», sagt Jorge, «dass Gaby irgendwann zurückkommen würde.»

Jorge fuhr voraus, um Unterkunft und Anstellung zu finden. Nach dem Restitutionsgesetz stand den politisch Verfolgten die gleiche Beschäftigung zu, die sie vor ihrer Flucht ausgeübt hatten. Bis das Gesetz griff, arbeitete er als Kassierer in einer Teigwarenfabrik, dann drei Jahre lang in der staatlichen Banco de la República. Ab 1990 war er in der Stadtverwaltung von Montevideo tätig, nach der Pensionierung ehrenamtlich im Verwaltungsrat der Bankkooperative, zuletzt als deren Präsident. Er ist nach wie vor in der Gewerkschaft und in der Bezirkssektion des Frente Amplio aktiv. «Wir treffen uns einmal in der Woche. Aber wir sind nur mehr fünf oder sechs. Und alle über 65.»

Zehn gute Jahre.

Laura wie Gabriela legten die Matura an der Deutschen Schule von Montevideo ab. Danach arbeitete Laura im SOS-Kinderdorf. Seit langem ist sie Sozialarbeiterin in einem Armenviertel, unterrichtet aber auch an der Universität. Sie hat zwei halbwüchsige Kinder und den festen Willen, nach der Lizentiatur auch noch das Doktorat zu erwerben. Gaby ist, wie Jorge vorausgesehen hatte, wieder in Europa ansässig geworden. Sie studiert Psychologie, arbeitet in Hamburg als pädagogische Betreuerin in der ambulanten Sozialpsychiatrie und ist gerade Mutter geworden, was auch der Anlass für Jorges Reise war, die er für einen Abstecher nach Wien nutzte, hierher, wo ihn alles an Ana erinnert hat, diese großmütige liebevolle Frau, die ich immer nur lächelnd erlebt habe.

Als ich die beiden einmal in Montevideo besucht habe, hat mir Ana erzählt, wie aufgeregt und stolz sie jedes Mal sei, wenn im Fernsehen Bilder von Österreich auftauchten, die Landschaft, die Leute, ihre Erinnerung an zehn gute Jahre. Nachdem sie den langen Kampf gegen den Brustkrebs verloren hatte, verstreute Jorge ihre Asche dort, wo sie oft Urlaub gemacht hatten, in Piriápolis und Colonia. Eigentlich hätte ich es auch Österreich vergönnt, etwas von ihr aufzuheben.

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