Für Calle Fuhr startet die erste komplette Spielzeit als künstlerischer Produktionsleiter für das Volkstheater in den Bezirken. Mit aktuellen Themen und eigenen Stücken will er Brücken zwischen Disziplinen und Menschen bauen und dem subversiven Zwilling des Haupthauses eine Neuausrichtung verpassen.
TEXT: MAGDALENA MAYER
FOTO: CAROLINA FRANK
Sie stammen aus Düsseldorf, doch die Wiener Theaterszene ist für Sie kein Neuland: Unter anderem waren Sie von 2015 bis 2017 Regieassistent am Volkstheater. Nun haben Sie die Leitung von dessen Bezirkstheater übernommen. Wie haben Sie das Format der Außenspielstätten konzipiert?
Ich habe mich noch einmal genau mit der Theaterszene auseinandergesetzt und gefragt: Was wollen wir, was gibt es in dieser Stadt noch nicht? Das Volkstheater in den Bezirken ist europaweit so einzigartig, dass ich der Meinung war, wir müssen etwas zeigen, das diesen Volkshochschulsälen gerecht wird. Ich habe nicht verstanden, warum man dort einen Klassiker spielen sollte, wenn man das genau so gut in all den anderen größeren Theatern sehen kann. Ich habe mich also mit der Geschichte der Säle beschäftigt, die eher «town halls» für Bürgerversammlungen waren, mit deren Angebot an niederschwelligen Vorträgen. Ich fand den Geist dahinter so spannend, dass ich dachte, es macht Sinn, diese Orte wieder zu politisieren und reale oder real angehauchte Geschichten aus der Jetztzeit zu zeigen. Deshalb machen wir nun ausschließlich Uraufführungen mit Stücken, die wir extra für die Bezirke schreiben lassen, und arbeiten mit dem journalistischen Recherchekollektiv Dossier, das ein Kompass für gesellschaftlich relevante Themen ist. Und wir probieren partizipative Arbeiten aus, lassen Bürger_innen selbst Geschichten erzählen.
Bei der Programmierung ist der Begriff der Gemeinschaft für Sie zentral?
Absolut, das ist ein unterschätzter Begriff, der leicht in Pathos oder Populismus abdriftet. Ich frage mich, wie Gemeinschaft aussehen kann. In einem Grätzel kann sie auf direkter Ebene im Austausch etwas verändern. Die Theater der Bezirke sollen ein Anlaufpunkt sein, an dem sich Menschen treffen, die sich sonst in der U-Bahn gegenübersitzen und nicht anschauen. Ich glaube allein dadurch, dass man Zeit miteinander verbringt und ins Gespräch kommt, Hürden abbauen kann, die zu dieser Frontenbildung führen, wie ich sie nicht nur in Österreich, sondern auf der ganzen Welt wahrnehme.
Das Theater trifft in den Grätzeln auf unterschiedliche Lebensbereiche.
Das finde ich spannend: Wie reagieren die Menschen in verschiedenen Bezirken auf den mehr oder weniger gleichen Abend? Dabei geht es nicht darum, mit Hochkultur durch Viertel zu touren, sondern ein Anker zu sein, der den Menschen persönlich Sinn gibt.
Vor Kurzem wollten Sie das Theater an den Nagel hängen und Küchengehilfe werden. Für sich selbst haben Sie den Sinn im Spiel wieder entdeckt, als Sie begannen, Stücke mit Anknüpfungspunkt im Hier und Jetzt zu machen?
Als ich zuvor Klassiker neuinszeniert habe, habe ich mich in einem Nischenhobby wiedergefunden, das daraus bestand, alte Literatur zu entstauben. Es geht bei Theater aber darum, ein Spiegel und Barometer für gesellschaftliche Entwicklungen zu sein. Dann habe ich meinen ersten eigenen aktuellen Text geschrieben und inszeniert und gemerkt: Das ist sinnstiftend.
Statt auf rein Fiktionales setzen Sie nun außerdem auf dokumentarisches Recherchetheater. Wie wichtig ist die Arbeit mit dem Journalismuskollektiv Dossier?
Wir überlegen zusammen, wie wir einen nachhaltigen Aspekt in unsere kurzweiligen Jobs bringen können: Ein Artikel verliert an Relevanz, ein Theaterstück ist irgendwann abgespielt. Meine Arbeit Heldenplätze, die die Saison in den Bezirken eröffnet, beruht auf einer Geschichte von Dossier über Missbrauchsvorwürfe gegen Toni Sailer, die im Rahmen der MeToo-Bewegung publiziert wurde und empörte Reaktionen auslöste. Wir haben uns nun anhand dessen gefragt: Wie funktioniert kollektive und persönliche Erinnerungskultur in Österreich? Und so lebt dieser Artikel weiter. Über Toni Sailer habe ich nicht viel zu erzählen, vielmehr geht es um das Danach, wenn Nationalhelden angreifbar werden, und um Opfer, die durch systematische Vertuschung eine Dunkelziffer bleiben.
Wo liegt bei dieser Kooperation der Mehrwert für das Theatermachen?
Journalismus und Theater wollen Geschichten erzählen. Nur haben sie andere Herangehensweisen. Seit wir zusammenarbeiten, gehe auch ich mehr in einen Rechercheprozess, rede mit Menschen, führe Interviews, fiktionalisiere dann. Wir haben am Volkstheater das Motto «enjoy complexity». Während viele gerade versuchen, die Welt über populistische Thesen einfacher zu machen, ist es die Aufgabe von Theater – wie auch von Journalismus –, sie in ihrer Komplexität darzustellen und Schwarzweiß-Denken bröckeln zu lassen. Wenn es um gesellschaftlich relevantes Theater geht, das Herausforderungen der Zukunft begegnet, bringen uns coole Shows und Phrasen nicht weiter. Wir müssen Menschen auf ihren unterschiedlichen Wegen abholen, zusammenrücken und schauen: Was verbindet uns?
Welche Geschichten wollen Sie in Ihren Stücken erzählen?
Ich finde es langweilig und eitel, als gut abgesicherter Künstler zu erzählen, wie schlecht die Welt ist. Ich sehe meine Aufgabe darin, einen Schritt weiterzugehen und mögliche Lösungen zu zeigen. Wissenschaftliche Vorschläge für die Bewältigung gesellschaftlicher Probleme kann ich nicht bieten, aber ich kann zeigen, wie Menschen Themen nicht ausweichen, über ihren Schatten springen. Geschichten, die Hoffnung machen, interessieren mich. Humor ist dabei auch zentral. Pessimismus hat uns selten weitergebracht.
Der Coronakrise sind Sie mit der Webserie Encore begegnet: Schauspieler_innen haben Texte von Ihnen performt, die Videos davon haben Sie auf Instagram hochgeladen. Nun wird die Serie in der Dunkelkammer auf die reale Bühne geholt. Wie kann man sich das vorstellen?
Dafür entsteht ein neuer Text zur selben Frage: Was passiert gerade? Ich habe mir noch einmal Gedanken über das Wort «encore» gemacht: Zuerst war das die digitale Zugabe, weil unsere Vorhänge geschlossen waren, dann gab die Pandemie selbst auch Zugaben. Aber jetzt haben die Theater wieder offen: Was kommt nun, und was kann Theater nach der Pandemie sein, muss es etwas anderes sein, haben sich die Aufgaben verändert?
Haben Sie bereits Antworten gefunden?
Ich habe in der Krisenzeit gemerkt, dass das, was uns am meisten gefehlt hat, das Zwischenmenschliche ist. Und wie toll Nachbarschaft ist, wenn man sich gegenseitig hilft. Genau das ist es, was wir nun in den Bezirken wollen: Menschen den Raum geben, um zusammenzukommen, Grätzelkultur voranzutreiben. Wir arbeiten mit Grätzelinitiativen zusammen, suchen permanent nach Menschen, die mit uns in Kontakt treten wollen. Überlegen: Wo haben wir Gemeinsamkeiten, wo können wir einander guttun und weiterbringen?
Wie ist es, wieder auf Bühnen Theater machen zu können?
Begegnungen wurden plötzlich zum Zentrum der Angst. Auch ich hatte anfangs Respekt davor, wieder mit vielen Leuten im Theatersaal zu sitzen. Bei der Premiere von Endspiel von Kay Voges ist dann etwas Schönes passiert: Eine Frau hatte ein so schrilles Lachen, dass der ganze Saal mitgelacht hat. Solche besonderen Momente gibt es bei Netflix nicht, nur live.
Wünschen Sie sich also, dass im Volkstheater in den Bezirken die Menschen lernen, sich wieder ohne Angst vor Corona und vor bestehenden Fronten begegnen?
Ja, aber auch ohne Angst vor Kunst. Ich kenne das von mir. Als ich angefangen habe, ins Theater zu gehen, fürchtete ich, es nicht zu verstehen. Wir wollen so ein Angebot schaffen, dass auch diese Angst flöten geht. Etwa eine Beisl-Tour: Dafür suchen wir in jedem Bezirk unsere «Kantine» – das Herz und die Leber jedes Theaters. Nach den Vorstellungen finden dort Publikumsgespräche und Konzerte statt. Manchmal sitzen wir auch einfach so zusammen und kommen gemeinsam ins Gespräch.