Flaniermeilen im (noch) nicht so hippen Teil der Leopoldstadt
Wer sagt, dass es Prachtboulevards nur in Innenstädten gibt? Wien hat mindestens zwei in der Vorstadt: die Vorgartenstraße und die Engerthstraße, im Norden des zweiten Gemeindebezirks. Ruth Weismann (Text und Fotos) ist spazieren gegangen und hat einiges entdeckt.Zugegeben, über die Definition von Pracht lässt sich streiten, aber lang, breit, von Bäumen und unterschiedlichsten Gebäuden gesäumt sind beide Straßen. Außerdem historisch relevant, zumindest die Vorgartenstraße. Auf der nämlich wurden Ende des 19. Jahrhunderts erstmals Vorgärten vor Miethäusern angelegt.
Wer sich für städtische Wohnbauentwicklung interessiert, sollte jedenfalls mal hier flanieren (statt studieren): Gründerzeithäuser, Gemeindebauten aus Vor- und Nachkriegszeit sowie, gen Norden hin, die jüngste Wohnbauoffensive am Rande des Nordbahnviertels. Die Straßenzüge zwischen Handelskai und Rudolf-Bednar-Park mögen zwar wenig Futter für Autor_innen von Reiseführern bieten, denn mit schönen Altstädten oder modernen architektonischen Landmarks kann das Viertel nicht mithalten. Auch das oft gesuchte malerisch-verfallene Ausrangierte gibt es hier kaum, dafür durchaus eine Portion Schiach-aber-cool-Flair à la Berlin, was an den langen, von Bäumen gesäumten Straßen liegt. Dieser «Vorgarten» Cis-Danubiens jedenfalls schult den Blick fürs Detail – Ausblicke, Einblicke, Durchblicke und Weitblick.
Vitamin B
Wer nicht eh schon hier wohnt oder arbeitet, reist zum Beispiel mit der U1 an. Gleich bei der Station wartet die «Vitaminstation» mit unendlich vielen Varianten an frisch gepressten Säften auf, vor allem in den Morgenstunden scheint die halbe Stadt hier ihren Tagesbedarf an Obst und Gemüse zu decken. Rund 100 Schritte weiter, in der parallel zur Vorgartenstraße verlaufenden Engerthstraße, kann man theoretisch gleich wieder einkaufen, es genügt aber, den vielleicht schönsten Billa des Landes zu bewundern – rein architektonisch gesprochen. Denn die Supermarktkette hat sich in der alten Remise, die seit mehr als 20 Jahren als Veranstaltungsort fungiert, eingemietet. Schafft man es, die gelben Schilder und die Autos in der – ebenfalls in der Remise angesiedelten – Garage auszublenden, hat man mit dem langgezogenen Backsteingebäude, dem wunderschönen Holzdach und den hohen Fenstern tatsächlich authentisch malerisches Flair. Und einen super Durchblick zu den dahinterliegenden modernen Gebäuden nahe des Rudolf-Bednar-Parks.
Am Ende der Remise steht die serbisch-orthodoxe Kirche. Innen üppig dekoriert mit Gold und bunten Wandmalereien, außen eher schlicht, aber interessant mit dem Hintergrund grauer, verschachtelter Häusern, vor denen sich die goldenen Kreuze der Kirchtürme abheben. Wenn man durch die Haussteinstraße spaziert, vorbei am Happy Lab – einer offenen Werkstatt für alle, die sich für 3D-Printer, Vinylplotter und Ähnliches interessieren –, steht man fast schon am Donauufer. Fast, weil dazwischen der Verkehr braust, was aber durch gute Aussicht wettgemacht wird: die Überlagerung von hohen, schlanken Bäumen, Stromleitungen, Geleisen, exponierten Balkonen und dahinterliegender Donaucity-Skyline sagt mehr über Großstadtpoesie und reales Leben aus als die x-te Ansicht vom Haas-Haus, in dem sich der Stephansdom spiegelt.
Na da schau her
Apropos spiegelt: Der Blick fällt nach links und sieht schon das Paradies für Freund_innen postmoderner Reflexionen. Das enorme Konglomerat der Pensionsversicherungsanstalt lässt an eine etwas schickere Version von Klingonenburg denken und ist komplett verspiegelt. Ein Hotspot für Selfies also. Neben Gestrüpp, Kieselsteinen, Himmel und Wolken spiegelt sich auch das hübsche alte Backsteinhaus, in dem Geschäftsräume untergebracht sind, sowie ein schöner Gemeindebau aus den 1930er-Jahren und die bunte Blockstreifen-Fassade von Geriatriezentrum und Genossenschaftswohnbau – ein leichtfüßiger Bau, der sich ein bisschen am 1950er-Jahre-Modernismus und an Feriendomizilen orientiert. Durch den großen Innenhof gelangt man wieder auf die Vorgartenstraße, die gegen Norden hin immer ruhiger wird. Denn der (noch) unverbaute Teil des Nordbahnhofgeländes ist eine der besten «Gstättn» Wiens, auf der sich vor dem Boom, der das riesige, überwachsene Areal zum Bauland erklärte, noch die Hasen rumtrieben. Auch jetzt ist es hier schön und struppig, aber teilweise eingezäunt und mit mehr Wohnblöcken im Blick.
Beim Zurückwandern sieht man schon von Weitem durchsichtige Kunststoffkugeln auf Betonpfeilern, die am Rande des Gehsteigs in die Höhe ragen. Wohnungs-Extensions in den Außenraum, kleine private Wintergärten über den Köpfen der Fußgänger_innen, die, wenn sie nach oben blicken, Kaffeehausstühle, Sofas, Plastikpalmen, Fahrräder oder Spielzeug in den Kugeln sehen. Die Vorgärten des 21. Jahrhunderts sind hier also nicht mehr auf dem Boden geblieben, sondern streben gen Himmel. Die Frage, wie sehr man in Privatsphäre eindringt, wenn man hinschaut, müssen wohl alle für sich selbst beantworten. Falls es den Bewohner_innen des besagten Hauses irgendwann zu viel wird, wäre eine Umwidmung zu Ausstellungs-Vitrinen geeignet, etwa für Skulpturen.
Kunst am Bau der Zukunft.
Auf Kunst am Bau der Gegenwart, nämlich ein Mosaik spielender Kinder, kann man dann beim Essen schauen. Das indische Selbstbedienungsrestaurant Thali an der Ecke Vorgartenstraße/Walcherstraße sieht zwar aus wie eine Kantine (was es für die umliegend Arbeitenden zu Mittag auch ist), hat aber definitiv Vor- und Großstadtflair. Und ist am Wochenende der perfekte Ort, um ungestört von Touri-Strömen, shoppenden Massen und überfüllten In-Cafés ein Curry zu genießen und ausführlich Zeitung zu lesen. Am besten den Augustin.