Im Wahn bin ich, im Wahn will ich bleibenArtistin

Klaus Huhle bekämpft in Stockerau das Prinzip des Wegsperrens

Wer je Miloš Formans Film «Und einer flog über das Kuckucksnest» gesehen hat, wird seine Botschaft teilen, dass nicht die Menschen, sondern die systemischen Verhältnisse, in denen sie überleben müssen, wahnsinnig sind. Den Film gibt’s auch als Theaterstück. Darum ist Stockerau nun eine Reise wert. Bitte die S-Bahn benutzen.

 

Foto: Mehmet Emir

Offensichtlich kann man «Heimat» auch zeitlich definieren. Die 70er Jahre – also das Jahrzehnt, in dem die Entkrustungen und Enteisungen gefeiert wurden, die in der Folge der 68er Revolte möglich geworden waren – war für den Theatermenschen Klaus Huhle in etwa das, was für andere Menschen die räumliche Heimat darstellt. Was Klaus Huhle ist, ist er vor allem in den 70er Jahren geworden. Es war die Zeit, in der die «totalen Institutionen» als nur noch zerstörbar, nicht mehr reformierbar erkannt wurden. Vor allem die Psychiatrie und das Gefängnis. Mehr noch als die linken gefängniskritischen und antipsychiatrischen Politikgruppen sorgte ein Film aus dem Jahre 1975 für eine gesellschaftlich weit verbreitete Hinterfragung des Wegsperrens der «Wahnsinnigen». Es war Miloš Formans Film «Einer flog über das Kuckucksnest», der auf einem Roman von Ken Kesey und dessen Dramatisierung durch Dale Wasserman beruhte. Zehn Jahre vorher, Mitte der 60er Jahre, wäre der Film in Deutschland und in Österreich vermutlich noch nicht verstanden worden, obwohl es schon den Roman gab; der war aber in Amerika erschienen, wo sich die 70er Jahre schon in den 60er Jahren abspielten.

Rückschritt in die 50er Jahre

Was das Durchschauen, Begreifen, Bekämpfen und Ersetzen der totalen Institutionen betrifft, scheint man heute in die 50er Jahre zurückgefallen zu sein. Zwar sind die Kinder- und «Erziehungsheime» durch die vielen aufgedeckten Misshandlungsskandale zum aktuellen Thema geworden, aber die Gefängnisse sind voll, als habe es nie einen Diskurs über den barbarischen Charakter von staatlich betriebener Rache an Delinquenten gegeben, und die für die Pharmaindustrie arbeitende Medizin hat nie so viele psychiatrische Diagnosen erfunden, die jeden Gesunden unter dem Deckmantel der Wissenschaftlichkeit pathologisieren können und ihn dadurch nachhaltig entmündigen. Sogar die gesündeste aller menschlichen Reaktionen, die Trauer, wird heutzutage interessensgeleitet als Depression missinterpretiert.

Im Theater in Stockerau, das wohltuend entprovinzialisiert wirkt, seit Zeno Stanek die Intendanz übernommen hat, steht «Einer flog über das Kuckucksnest» auf dem Programm der lokalen Festspiele. Bis 9. August ist Klaus Huhle in jener Rolle zu sehen, die in Formans Film mit Jack Nicholson besetzt war. Er ist der Ire McMurphy, der es geschafft hat, sich vom Gefängnis ins Irrenhaus verlegen zu lassen, weil es da nicht ganz so totalitär zugeht wie im Knast. Auch im Irrenhaus herrscht Tyrannei, die «Große Schwester» übt sie aus, aber McMurphy, der unfähig ist, sich anzupassen, nimmt sofort den Kampf mit ihr auf und demütigt sie, wo er sie demütigen kann.

Er ist kein Revolutionär, er ist ein derber Kerl, der sich nichts scheißt, ein Draufgänger und Desperado, eine Projektionsfläche für Männer aus linken Bewegungen. Den Film kennt jeder, das Buch aber hat bei uns fast niemand gelesen; das Theaterstück ist näher beim Buch als beim Film, das wird an der Figur des «Indianers» klar. Chief Broom, «der Indianer», spricht nichts und hört nichts. Doch das ist nur simuliert. McMurphy wird im Schlafsaal sein Bettnachbar. Bald durchschaut er dessen Simulieren, und es entwickelt sich eine persönlichere Beziehung zwischen den beiden. Der Desperado hilft dem zurückgezogenen Chief, sich auf seine psychische wie physische Kraft zu besinnen. Er macht auch den anderen Insassen Mut, ihren «Wahnsinn» zu akzeptieren und sich ihrer Würde bewusst zu werden. Die Geschichte wird immer spannender, soll hier aber nicht verraten werden.

Wenn die Mittelgeneration nicht wär’…

Klaus Huhle, Sohn von DDR-Flüchtlingen, war zunächst Schlosser und Berufsschullehrer, bevor er sich in das Theaterleben stürzte. Ist es für einen, der im New York Pantomime Theater ausgebildet wurde, der mit den Theaterveränderern Augusto Boal und Armin Petras zusammenarbeitete, der das Roma Theater Pralipe kennenlernte, nicht eine Niederlage, fremdbestimmt in herkömmlichen Theaterhäusern zu arbeiten, und das noch dazu außerhalb der «Trara-Trara-die Hochkultur»-Zone? Diese Frage müsse er strikt verneinen, sagt Huhle. Sicher, generell zähle das traditionelle Theater zu den Institutionen mit der größten Hierarchie, aber Zeno Stanek als Regisseur sei ein Demokrat des Theaters; er kenne ihn schon aus der Litschauer Zeit (2012 wirkte Huhle bei den «Letzten Tagen der Menschlichkeit» im dortigen Herrenseetheater mit), und auch bei der ersten Stanek-Produktion in Stockerau («Besuch der alten Dame», 2013) sei er dabei gewesen – «mit der wunderbaren Anne Bennent, die sich weigert, jegliche Autoritäten des Theaterbetriebs anzuerkennen». Es sei ihm auch bewusst, dass außer der sozialen Minderheit des Bildungsbürgertums der mittleren Generation niemand ins Theater gehe; die Jugend sei dem Theater völlig entfremdet. Man müsse einmal untersuchen, warum die mittleren Generationen so sind, wie sie sind, und ob sie nicht strukturell ein Faktor der Bestätigung vorgefundener sozialer Verhältnisse seien und mithin das Unsympathischste, was die menschliche Gesellschaft hervorgebracht habe. «Wir haben eine neue These auf die Welt gebracht», freut sich Klaus Huhle, und das im Rahmen eines Interviews in aller Frühe, vor der Theaterprobe.

Weil das herkömmliche Theater ist, wie es nun mal geworden ist, sei es ihm natürlich nicht genug, betont Huhle. Er träume davon, subversive Großprojekte mit Profis und Lai_innen zu inszenieren, in denen die Bühne-Publikum-Konstellation zertrümmert werde, die auch öffentliche Räume erobern und die dramatische Kunst dorthin bringen würden, wo die theaterfernen Teile der Gesellschaft zu finden sind. Er träume davon, auch in Wien an seine großen soziokulturellen Projekte anzuknüpfen, die er in Wiesbaden mit der von ihm gegründeten «Werkstatt für Bühne und Film» realisierte. Namentlich mit der Don Quijote-Trilogie hat sich Klaus Huhle eine Latte vorgelegt. Das hatte nichts mehr mit dem Theater der alten Art zu tun, sondern es war ein Hybrid von Kunst und Revolution.

Unerwartetes Kompliment an Wien

Der erste Teil der Trilogie kam im Herbst 2011 im Rahmen des Protests des Aktionsbündnisses «Banken in die Schranken» zur Aufführung. Vorangegangen waren zwei Theaterworkshops, in denen sich Schauspielamateur_innen und Profis diverser Herkunft und aller Altersstufen mit dem weltbekannten Roman «Don Quijote» des spanischen Schriftstellers Miguel de Cervantes auseinandersetzten. Als Gruppe, der reines Theater um des Theaters Willen nicht imponiert, sondern die ihre Auftritte immer auch als politische Intervention begreift, nahm das Ensemble schließlich an der Frankfurter Bankenumzingelung teil und spielte «Don Quijote» als Straßentheater. Mit Küchensieben auf dem Kopf skandierten die Schauspielerinnen und Schauspieler «Im Wahn bin ich, im Wahn will ich bleiben» und attackierten die Banken. Ebenfalls im Zusammenhang mit der Trilogie wurden Zuschauer_innen interviewt, was für sie ein lebenswertes Leben ist, wie sie sich gute Arbeit und Arbeitsbedingungen vorstellen oder in welcher Wohnform sie leben möchten. Gefragt wurde auch nach der persönlichen Bereitschaft, sich beispielsweise umwelt- und ressourcenschonend zu verhalten. Im Herbst 2012 wurde an drei öffentlichen Plätzen in Wiesbaden sukzessive ein kleines Zirkuszelt errichtet. Ein menschengroßes Hamsterrad stand im Zelt. Das Hamsterrad kann als Symbol für ein Schuften ohne Sinn, für ein fremdbestimmtes Leben im neoliberalen Stress betrachtet werden.

Dass Klaus Huhle nicht mehr an Wiesbaden denkt, wenn er über die Fortführung von großen Projekten dieses Typs grübelt, ist eigentlich ein Kompliment an Wien. Im Theaterprospekt für die Stockerauer Festwochen heißt es noch, dass er zwischen Wiesbaden und Wien hin und her pendle. Nein, ich habe meine Zelte in Wien aufgeschlagen, meint der Ex-Wiesbadener. Konkreter: im Gemeinschaftswohnprojekt auf dem Gelände des ehemaligen Nordbahnhofs. Derzeit gehe es in den Bewohner_innen-Plena darum, wie man Kunst und Kultur in die Wohnblöcke bringen kann. Ein spannendes Experiment der Selbstorganisation, sagt Klaus Huhle und fügt in Bezug auf unser Gesprächsthema hinzu: «Alle sind engagiert. Übrigens geht keine Sau von ihnen ins Theater.» Das Theater habe sie auch nicht verdient. Der Umstand, dass er für seinen Sohn ein «antipädagogisches» Schulprojekt gefunden habe, und zwar nicht in Form einer teuren Privatschule, sondern in Form eines Experiments innerhalb einer Regelschule, sprach auch für Wien. Für kritische Wiener Ohren überraschend ist vielleicht Huhles Lob der Verkehrspolitik. Die meisten europäischen Städte seien autofreundlicher, behauptet er. In Wien sei Autofahren, und das sei gut so, sehr teuer, und eine günstigere Jahreskarte für den öffentlichen Verkehr habe er auch noch nirgends gesehen.

Was er hier nicht leiden kann: dass die Menschen so viel Angst vor den anderen, den anders Tickenden, den so genannten Irren haben. Dagegen spielt er gerade Theater in Stockerau. «Kinsky war ja auch ein Irrer – und dennoch einer der international gefragtesten Filmschauspieler», lacht Huhle. «Und schau dir doch einmal dieses Foto von mir an (gemeint ist das Foto auf dieser Seite): Siehst du nicht auch den Wahnsinn aus meinen Augen blinzeln?»

«Einer flog über das Kuckucksnest»

von Dale Wasserman, nach einem Roman von Ken Kesey

mit Klaus Huhle, Horst Heiss, Elke Hartmann u.a., Regie: Zeno Stanek, Bühnenmusik: Karl Ritter

Aufführungen in Stockerau:1.7. – 9.8.

www.festspiele-stockerau.at