Im Westen nichts Neuesvorstadt

Über Bahnhofsrestaurationen (4/5)

Die Westbahn ist in den letzten Jahren zur Hochgeschwindigkeitsstrecke ausgebaut worden, die Reisende in knapp einer Stunde von Wien nach Linz befördern soll. Dass

dabei die klassischen Bahnhofsrestaurants auf der Strecke geblieben sind, überrascht Chris Haderer (Text & Fotos) nicht wirklich.

(Historische Aufnahme vom Linzer Hauptbahnhof: um 1860)

Damals, in einem Zug vor unserer Zeit, brauchte man gefühlte drei Stunden bis Linz, und wer es ab Enns wagte ein Fenster zu öffnen, was vor 36 Jahren noch problemlos möglich war, musste mit Sanktionen rechnen. Ab Enns begann nämlich der Himmel trüb zu werden; und wo zuerst Luftkurorte die Krampfadern des Wienerwalds durchzogen, sah man schon weit vor Linz dunkle Wolken, aus denen die voestalpine stank. Seit dem Ausbau der Westbahnstrecke bekommt man von der Umgebung nicht mehr allzu viel mit: Die Reisezeit von Wien nach Linz ist auf bis zu eineinviertel Stunden geschrumpft, und viele Teile der neuen Hochgeschwindigkeitsstrecke verlaufen in Tunneln. Mit Spitzengeschwindigkeiten von bis zu 250 Stundenkilometern.

1982 kam ich das erste Mal nach Linz, zwei Jahre vor dem Orwell-Jubeljahr, zur zweiten Ars Electronica. Der Linzer Hauptbahnhof war damals ein altehrwürdiges Gebäude aus dem Jahr 1955, das die ursprünglich aus dem Jahr 1858 stammende Anlage, die im zweiten Weltkrieg zu gut 70 Prozent zerstört wurde, ersetzte. Der Bahnhof war eine Erscheinung: groß, mächtig, mit einem riesigen Vorplatz, auf dem die Straßenbahnlinie 3 eine Station hatte. Drinnen: zwei Lokale; ein Restaurant, in dem man gutbürgerlich tafeln konnte, und ein Tschocherl, in dem gute Bürger bisweilen vom Barhocker stolperten. Der Branntweiner war vom Feinsten: Manchmal laut, manchmal leise, meistens lallend. Am Nachmittag fanden sich gelegentlich verirrte Gäste ein, die das Etablissement mit einem seriösen Lokal verwechselten – was es auf irgendeine Weise auch war. Dass es bisweilen zu Erstaunen kam, lag nicht unbedingt an der Stammklientel, für die das Lokal ja gedacht war, sondern an denen, die sich in ein Lokal verirrten, das nicht für sie gedacht war. Immerhin ist ein Bahnhof ja «eine Art Ersatzheimat der Menschen mit Heimweh», wie der italienische Flüchtlingsbetreuer Silvio Mazzinghi es ausdrückt.

Unter den Flügeln des Löwen.

Zwei steinerne Löwen flankierten den Eingang zum Bahnhof, wodurch man sich als Reisender im Inneren gut bewacht und sicher fühlen konnte. Das alles ist seit dem Jahr 2004 Geschichte: Bedingt durch die Bahnhofsoffensive der ÖBB ist im Bereich des Linzer Hauptbahnhofs kein Stein auf dem anderen geblieben. Das neue Gebäude sieht dem alten nicht einmal entfernt ähnlich, was auch für den Vorplatz gilt. Die alten Lokale sind verschwunden, stattdessen wird die Szene jetzt von den üblichen Verdächtigen bespielt: Backshops, Leberkäse-Imbiss, Geschäfte. Lokale gibt es noch oder wieder, und eines kann man auch empfehlen: das «Stellwerk Café Bistro», in dem man rauchen darf, wie in der guten alten Zeit der Bahnhofsrestaurants. Die Speisekarte besingt hervorragende Menüs und die Wiener Schnitzel sind im Stellwerk immer ein Loblied wert. Schaut man beim Essen auf den Vorplatz hinaus, sieht man allerdings keine Straßenbahn mehr: Die nähert sich den Zügen nicht mehr oberirdisch, sondern unter Tage. Stattdessen hat man die Glasfront des Finanzamts vor Augen, und früher oder später hat man den Wunsch, Linz ganz schnell zu verlassen…

Apropos: Die beiden Löwen aus Stein bewohnen noch immer den Bahnhof – und wie vieles in Österreich haben auch sie ihren Ursprung in der Nazi-Zeit. Um das Jahr 1941 herum erhielt der 1985 in Hallein verstorbene Bildhauer Jakob Adlhart den Auftrag, vier Steinlöwen für die Brückenköpfe der Salzburger Todt-Brücke (die später in Staatsbrücke umgetauft wurde) in Stein zu meißeln. Adlhart stellte jedoch nur zwei Löwen fertig, die nach dem zweiten Weltkrieg nicht nach Salzburg kamen, sondern nach Linz, wo sie zwischen 1949 und 2003 die Eingangstreppe des Hauptbahnhofs bewachen durften. Die Todt-Brücke, benannt nach dem 1942 verstorbenen Rüstungsminister Fritz Todt, wurde übrigens von jugos-lawischen Zwangsarbeitern sowie von französischen und sowjetischen Kriegsgefangenen errichtet – für die in den Annalen der Salzburger Geschichte letztlich kein Platz war: Bei der Eröffnung der bislang zehnten Brücke über die Salz-ach im Jahr 1949 wurden sie nicht einmal erwähnt.

Cyberpunk meets Bahnhofsreste.

Seit dem Jahr 1982, in dem Linz durch die voest-Werke noch eine deutlich fühlbare Stahlstadt war, ist viel passiert – und nicht zuletzt durch das Kunst-, Technologie- und Kulturfestival Ars Electronica, das jährlich im September im Schulterschluss mit der Linzer Klangwolke abgehalten wird. Der Ars Electronica hat die Linzer Stadtentwicklung eine Menge zu verdanken, nicht zuletzt weil die Ars, eines der bestbesuchten Festivals der Alpenrepublik, es vorgemacht hat, wie man Tourismus, Kunst, Technologie und Bildung durchaus plakativ vernetzt. Das 1996 am Donauufer eröffnete Ars Electronica Center, ist ein permanentes Zeichen für diese Grätsche, das Festival der jährliche Koitus mit der Community. Und bis heute ist die Ars Electronica ein guter Grund, einmal im Jahr nach Linz zu reisen und sich gegebenenfalls daran zu erinnern, dass früher natürlich alles besser war – wie beispielsweise im Jahr 1992, in dem sich Cyberpunk und Bahnhofsreste eindrucksvoll begegneten. Damals war der amerikanische Autor William Gibson als Stargast zur Ars geladen. Der Urheber der mittlerweile klassischen «Neuromancer»-Serie, der sich gemeinsam mit Bruce Sterling mit den Untiefen des heraufdämmernden Digitalzeitalters befasste, ärgerte sich am Vorabend des Festivals ein wenig darüber, dass ihn in Linz niemand kannte. Wir tranken Wein an der Bar im Brucknerhaus, er rauchte die Zigaretten schneller, als Lucky Luke sie drehen kann, und erzählte von seinem Erstkontakt mit Linz und Österreich. «Stroh-Rum kenne ich», sagte er. Und am Linzer Bahnhof sei er auch gewesen, am Nachmittag. Oben im Restaurant sei er gewesen, um etwas zu essen. Gut war es – aber auf Englisch schwer zu bestellen, 1992 in Linz. Und auch im Tschocherl war er, wo er zum Bier seinen Stroh-Rum bekam. Ich denke, dass ihm Linz und seine Züge so in Erinnerung bleiben werden.

Salzburger Marmor-Puzzle.

Erinnern können sich Reisende bald auch wieder an den legendären Marmorsaal am Hauptbahnhof Salzburg: eine prunkvolle Räumlichkeit, die – neben der benachbarten «Bürgerstube», ebenfalls der Bahnhofsinitiative der ÖBB zum Opfer gefallen ist. In den 2000er/2010er-Jahren wurde der Bahnhof umgebaut und der «Marmorsaal», der nach dem Zweiten Weltkrieg errichtet wurde und sich am Zentralperron befand, musste einer durchgehenden Gleisanlage weichen. Die unter Denkmalschutz stehende Dachkonstruktion wurde im Jahr 2009 abgetragen, in Polen restauriert und anschließend wieder in das Bahnhofsgebäude integriert. Gegen die Abtragung des Marmorsaals gab es vom Start weg heftige Bürger_innenproteste, da der Saal großen historischen Wert hat. Um eine gangbare Lösung zu finden, wurde der Marmor unter Beobachtung des Denkmalschutzes abgetragen und von der ÖBB eingelagert. Der Plan, eine Bedingung des Denkmalschutzes, war einen Käufer zu finden, der den Saal an einem anderen Ort wieder aufbaut. Erster Kaufanwärter war Max Mayr-Melnhof, der den Saal in seinen Gutshof in Glanegg integrieren wollte – und ganze 100 Euro für das Marmorpuzzle bot. Da alleine der abgetragene Marmor einen Wert von etwa 80.000 Euro hat, bekam der Industrielle den Zuschlag nicht – genauso wenig wie Wolfgang Auer (ÖVP), Bürgermeister der Gemeinde Adnet, aus der der Marmor stammte. Auch sein symbolischer Kaufpreis von immerhin einem Euro war der ÖBB etwas zu wenig, sodass die Teile des Saals bis zum Jahr 2016 unter Verschluss blieben. Den Zuschlag bekam schließlich das Augustiner Bräu in Salzburg-Mülln: «Ja, wir haben den Marmorsaal gekauft. Wir glauben, dass wir damit etwas Gescheites machen können», gab Abt Johannes Perkmann als Eigentümervertreter des Augustiner Bräus gegenüber den Salzburger Nachrichten zu Protokoll. Tatsächlich wurde der Marmorsaal im April 2017 im Bräustübl neu eröffnet – und kann damit an seine große Zeit als Ballsaal und Veranstaltungsort anknüpfen. Er ist nun zwar kein Bahnhofsrestaurant mehr, zeugt aber davon, dass Historie nicht zwangsläufig von der Moderne ausgelöscht wird. Der Salzburger Hauptbahnhof hat durch den knapp 270 Millionen Euro teuren Umbau an Charme verloren – wie jeder Bahnhof, für dessen Neugestaltung neoliberale Architekten Preise einstreifen wollen und es tatsächlich auch tun – ein Stück Bahnhofskultur ist aber erhalten geblieben, auch wenn es sich fernab von Geleisen befindet. Ein bisschen kann man das mit den Worten von Honoré de Balzac ausdrücken: «Brot und Wasser stillen den Hunger jedes Menschen, aber unsere Kultur hat die Gastronomie erfunden.»

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