Immer anders – und immer derselbevorstadt

Eine Allianz schützt den Tagliamento-Fluss

«Schneeweiß, wie ein Skelett», so hat Pier Paolo Pasolini «seinen» Fluss, den Tagliamento, beschrieben. Das Skelett, um in der medizinischen Sprache fortzusetzen, leidet unter Osteoporose. Kann die Kunst helfen, diesem Weltwunder aus Schotter und Wasser eine Zukunft zu sichern? Von Robert Sommer

In Rom kennt den Fluss kaum jemand, obwohl er von Alpha bis Omega im italienischen Staatsgebiet liegt und einen Charakter hat, wie man ihn bei keinem anderen Fluss Europas wiederfindet. Kümmern sich die Politiker_innen in der Landeshauptstadt dann doch um das einzigartige Gewässer, wäre es in der Regel besser, sie überließen die «Königin der Alpenflüsse» der Kompetenz einer erfreulich wachsenden Allianz von Anrainer_innen, Wissenschaftler_innen, Publizist_innen, Aktivist_innen und Künstler_innen. Nur synergetisch kann dem unberechenbaren Riesen Tagliamento geholfen werden. Die Träger dieser Synergie: solidarische Nachbarschaft, verantwortungsvolle Forschung, unabhängiger Journalismus, zivilgesellschaftliche Courage, Öko-Tourismus und Kunst außerhalb des Elfenbeinturms.

Diese Vernetzung braucht keine Zentrale, die ein abgestimmtes Kampfziel vorgibt, und es schadet auch nicht, wenn ein Hauch der Konkurrenz durch die bunte Koalition weht; wenn zum Beispiel die Wissenschaftler_innen meinen, sie hätten mit ihren Alternativkonzepten die Politik unter Druck gesetzt, während die NGOs davon überzeugt sind, dass sich Wissenschaft und Politik nur durch ihre Vermittlung begegnen konnten. Der Tagliamento-Erfolgsstory tat das keinen Abbruch. Immerhin, der Tagliamento ist das geblieben, was er bleiben sollte. Er ist der letzte frei fließende große Alpenfluss; nur die letzten 20 von insgesamt 170 Kilometern sind kanalisiert. Freilich gab es, neben dem Widerstand, auch noch weitere Gründe (siehe unten) dafür, dass der Fluss von den Begehrlichkeiten der Kiesgewinnungsfirmen und der Wasserenergielobby verschont blieb.

Er ist ein «Lebewesen» wie keiner der sonst bekannten, im Alpenbogen entsprungenen Flüsse, denn er ändert unentwegt seinen Lauf. Das tut er innerhalb eines bis zu zwei Kilometer breiten Schotterbetts, in dem die Positionierung der tausenden, zum Teil begrünten Inseln, unentwegt wechselt. Der Tagliamento flüstert sozusagen den Aktivist_innen, die sich für ihn einsetzen, ein methodisches Geheimnis ein: Er muss sich dauernd ändern, damit er bleibt, was er ist – der einzige große Wilde.

Zwei Erklärungen.

Warum blieb der Tagliamento in der Zeit Mussolinis und weiter in der Nachkriegs-Epoche des Betons, der Begradigungen, des Wirtschaftswachstums, der Bodenversiegelung, in der ja praktisch alle Flüsse Opfer ökologischer Verbrechen wurden, so unglaublich verschont? Der Schweizer Flussforscher Klement Tockner, der heute das Berliner Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei leitet, hat dafür zwei Erklärungen: Zum einen die ungeheure Dynamik des Flusses, die gewaltigen Hochwässer, die die Menschen abhielten, in der Nähe des Flusses zu bauen. Die zweite These führt in die Geschichte zurück: Flüsse in politisch unsicheren und umkämpften Lagen (der Tagliamento bildete lange die Grenze zwischen Österreich-Ungarn und Venedig) blieben unbehelligter von menschlichen Manipulationen als jene anderen Gewässer, die der Macht ganz zur Verfügung standen.

Es ist nicht überraschend, dass der angesehenste Akademiker unter den Tagliamento-Retter_innen die Rolle der Wissenschaft speziell hervorhebt. Dass das Wahnsinnsprojekt der autonomen Provinzregierung, der Bau riesiger Rückhaltebecken, vorläufig auf Eis gelegt wurde, ist laut Tockner den Argumenten der Forscher_innen zu verdanken, aber auch der kritischen Öffentlichkeit und den Naturschutzverbänden. Hier klingt die notwendige und auch erfolgversprechende Synergie der oben genannten Sektoren der Flussrettungsbewegung an. Der Regierungsplan sieht vor, die ständigen fürchterlichen Hochwasserkatastrophen im sträflich kanalisierten Unterlauf des Flusses dadurch zu mildern, dass man «ausgerechnet im schönsten, natürlichsten und ökologisch wertvollsten Abschnitt des Tagliamentos riesige Rückhaltebecken baut» (Tockner).

Fette Profite wären zu erwarten.

Wer die Verquickungen zwischen Wirtschaft und Politik in Italien kennt, kann diesem Frieden nicht trauen, denn ein Regierungsauftrag bringt fetten Profit – und ein solcher dürfte der «Baumafia» bereits in Aussicht gestellt worden sein. Für die Dämme dieses vermeintlichen Hochwasserschutzprojektes werden dem Flussbett 30 Millionen Kubikmeter Schottermaterial entnommen. Das geplante künstliche Becken verbraucht eine Fläche von 14 Quadratkilometern.

In diesem Konflikt um die «Königin der Alpenflüsse» begreifen sich vor allem die aus den Wissenschaften kommenden Schützer_innen des Flusses kaum als «Globalisierungsgegner», denn was da vom Leibniz-Institut ausgeht, ist angewandte positive Globalisierung. Vom Institut unterstützt laufen derzeit mehrere Tagliamento-Schutzprojekte, die von Japan, England, Italien, Deutschland und der EU finanziert werden. In den letzten zehn Jahren sind fast 100 wissenschaftliche Veröffentlichungen zum Tagliamento erschienen. Das spannendste Projekt des Instituts sind die Fotos, die von einer fixierten Kamera von einem Hügel aus geschossen werden – jede Stunde ein Bild, und das seit acht Jahren. Ein schneller Durchlauf der Fotos bildet auf beindruckende Weise die fast unheimliche Kontinuität der nie unterbrochenen Metamorphose des Flusses ab. Im Internet kann man sich das anschauen.

Als Teil dieses internationalen Netzwerks pro Tagliamento sieht sich auch der Kärntner Journalist Werner Freudenberger. Er bietet in Zusammenarbeit mit einem alternativen Klagenfurter Reiseveranstalter Führungen durch das Tagliamento-Tal an. Er hat auch ein Buch geschrieben: Am Tagliamento: Entdeckungen zwischen Alpen und Adria. Sein Ziel ist, wenigstes einen Bruchteil seiner Landsleute, die – unterwegs zu ihren Badeorten an der Adria, die sie in drei, vier Stunden erreichen wollen – entlang der Autostrada A23 zweimal den Tagliamento überqueren, zu einem Seitensprung zu überreden: Das touristische Potenzial vieler Orte am Tagliamento ist offensichtlich enorm. Ein regulierter Tagliamento würde diese Chance zunichtemachen.

Ein «Geheimtyp» Freudenberges, der hiermit sein Geheimnis öffnet, ist der Monte di Ragogna – der «Kraftplatz» des Kärntners. «Es zahlt sich aus, die gewohnte Tourist_innen-Schleuse nach Lignano zu verlassen», sagt er. Vom Castello di Ragogna aus hat man einen malerischen Überblick über den Fluss, der auch dort zwei Kilometer breit ist. «Wer hier heroben steht, wird meine Leidenschaft verstehen», sagt Freudenberger im AUGUSTIN-Gespräch. «Ein riesiges Naturschutzgebiet breitet sich vor deinen Augen auf – wegen der Artenvielfalt wird es auch die Serengeti Mitteleuropas genannt.» Ich hoffe sehr, er hat damit keinem Tourismusentwickler einen Floh ins Ohr gesetzt. Denn Safaritourist_innen sind wohl nicht ganz das, was die Tagliamento-Orte zu ihrem Glück brauchen. Auf magnetische Slogans wird der künftige Tagliamento-Ökotourismus aber nicht verzichten können, denn die nahe Adria wird dem Fluss immer die Show stehlen.

Der Tagliamento in der Medienkunst.

Wegen einer Antwort auf die Frage, ob schließlich auch die Kunst einen Beitrag zur Bewusstseinsarbeit setzen könne, braucht man keinen Friaul-Trip zu planen, sondern man kann den österreichischen Künstler Herwig Turk in seinem Leopoldstädter Atelier besuchen. Gemeinsam mit Studierenden der Universität für angewandte Kunst entwickelt Turk ein Projekt, das – wie seine früheren Projekte – an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Kunst angesiedelt ist.

Dem in Kärnten geborenen und in Wien lebenden Medienkünstler geht es unter anderem um die Macht der von Politik, Wirtschaft und Wissenschaft instrumentalisierten Bilder. Die Menschen sehen die Welt so, wie sie in Bildern erscheint. Dieser Umstand ist in der aktuellen Epoche der Bilderflut besonders relevant. Denn die Kultur der Bildkritik ist schwach entwickelt. Wider jedes Wissens wird dem Bild gegenüber dem Text die größte Glaubwürdigkeit zugesprochen. Bilder sind über ihre Suggestionskraft und nicht über Argumente wirksam. Dass «Freund und Feind» mit Bildern manipulieren können, erklärt mir Herwig Turk augenzwinkernd anhand eines Fotos, dass einen Bagger und zwei LKWs im Schotter-Flussbett des Tagliamento zeigt. Man könnte das Bild als Mahnung interpretieren, dass das lokale Kiesgewinnungsgewerbe die Hauptgefahr für den Fluss darstellt. Mit der «Schottermafia» hat die Gesellschaft einen Sündenbock konstruiert, der von der alltäglichen breiten gesellschaftlichen Missachtung gemeinschaftlich nutzenswerter Räume ablenkt.

Nach dem Erdbeben 1976, das die Tagliamento-Städte Gemona, Venzone und Osoppo vollständig zerstörte, sei viel künstliches Geld in das Tal gepumpt worden, das zu einer Zersiedelung der Landschaft führte. Die Regierung kann ihre Flussregulierungspläne nun optimal als Interessenspolitik zugunsten der Neosiedler_innen verkaufen. Deren größte Angst heißt jetzt: Hochwasser! Was wiederum die Frage aufwirft, ob die Abwesenheit des großen Geldes, der industrielle und wirtschaftliche Niedergang der Region rechts und links des Tagliamento die Bedingung seiner Naturbelassenheit sei. Herwig Turk plant eine Interview-Serie, die Aufschlüsse über den Umgang der Bevölkerung mit «ihrem» Fluss bringen soll. Eine Aufgabe, die auch die Wissenschaft übernehmen könnte – die müsste freilich ungewohnt interdisziplinär vorgehen, um so sensibel wie die Kunst zu werden …

 

Zum Projekt von Herwig Turk mit Studierenden:

www.aau.at/blog/erosion-am-tagliamento

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